Pfarrers Kinder Muellers Vieh
Liebe«, sagte Tante Frida, »mir bricht das Herz, aber ich muß den Laden wieder einrichten. Wenn Paul-Jerhard wiederkommt, so Jott will, wird er gleich etwas anderes für euch suchen.«
»Kommt schnell her! Das müßt Ihr euch ansehen!« schrie Michael aus der Tiefe der Wohnung. Wir liefen durch den dunklen Gang und standen fassungslos in einem Zahnarztzimmer. Ein schwarzer Behandlungsstuhl, daneben der Apparat mit dem gefürchteten Rädchen, ein Tisch mit Instrumenten, blitzende Glasschränke an den Wänden. Wir schüttelten uns vor Grauen.
»Ja, ist es denn die Möchlichkeit«, rief Tante Frida, »deshalb der penetrante Jeruch in der Wohnung. Na ja, Ihr werdet euch daran je wohnen.« Dann verschwand sie eilig. Eine Zeitlang blieb das Zimmer verschlossen. Die Tage vergingen. Vati meldete sich nicht, Mutti weinte, Christoph war krank, ich trauerte um meine verbrannten Puppen und auch die Geschwister vermißten ihre Spielsachen. Schließlich gingen wir doch in das unheimliche Zimmer und spielten Zahnarzt.
»Wir losen aus, wer sich behandeln lassen muß«, sagte Michael, »keine Sorge, es geht alles mit rechten Dingen zu.« Stefan und ich hatten unsere Zweifel, denn immer waren wir die Leidtragenden.
Eines Nachts klingelte es an der Wohnungstür. Wir fuhren aus dem Schlaf, berieten, was zu tun sei, und tappten dann gemeinsam den dunklen Flur entlang. Da stand Vati, lang und dünn, mit einem schwarzen Bart. Mutti fiel ihm in die Arme.
Nicht lange danach fand der dritte Umzug statt. Wir zogen in ein neues Haus auf dem Schwedenberg, dicht neben der verbrannten Kirche. Stefan und ich durften wieder nicht dabeisein. Onkel Walter kam extra von Bremen angereist, um uns abzuholen.
»Ihr dürft euch jetzt ein Weilchen erholen«, sagte Mutti, »Onkel Walter und Tante Gretel wohnen in einem schönen Haus, da wird es euch gefallen.«
Uns aber saß der Schreck noch in den Gliedern. Wir konnten nicht vergessen, wie unser Haus abgebrannt war, wie wir uns versteckt hatten und wie Vati fortgeholt wurde. Jede Nacht führte ich einen erbitterten Kleinkrieg mit Onkel Walter, der immer unsere Schlafzimmertür zumachte. Wir konnten jedoch nicht einschlafen, wenn die Tür geschlossen war. Stefan kroch zitternd zu mir ins Bett. Wir warteten, bis Onkel Walters Schritte verhallt waren, dann huschte ich zur Tür und machte sie vorsichtig wieder auf. Als er zornig von außen abschloß, tobten wir wie die Irren, rüttelten an der Tür und zeterten. Endlich griff Tante Gretel ein, und von da an blieb die Tür einen Spalt geöffnet. Der vierte Umzug war die Flucht im Januar 1945. Vati rüttelte mich aus dem Schlaf. »Schnell Kind, steh auf und zieh dir möglichst viel gute warme Sachen übereinander an. In zwei Stunden fährt der letzte Zug. Koffer dürft Ihr keine mitnehmen.«
Ich hastete zum Kleiderschrank. Dort stand bereits Beate und stülpte sich Pullover, Röcke und Winterkleider über den Kopf. Ein kluges Mädchen. Mein Herz aber hing an den schönen Dingen des Lebens. Ein Sommerkleid aus blauem Chiffon, ein süßes Dirndel, weiße Spitzenblusen und bunte Sommerröcke, ein flauschiger Morgenrock, den ich allerdings kunstvoll mit Stecknadeln hochstecken mußte, um ihn unter dem Wintermantel zu verbergen. Ich sah sehr dick aus. Nach kurzer Musterung nickte Mutti zufrieden. Später allerdings, nach Enthüllung der Tatsachen, rang sie die Hände, doch da war es schon zu spät. In den Rucksack packte Beate ihren Schmuck, Unterwäsche und Nachthemden. Ich holte aus dem Geheimschubfach meines Sekretärs alle Tagebücher heraus, getrocknete Blumen, meine ersten Gedichte und alle Briefe, die ich je bekommen hatte. Das rettete ich ins andere Leben. Oben auf dem Rucksack thronte das Töpfchen für die kleine Gitti.
Der Zug war schon überfüllt, als er in Bromberg einlief. Es war unmöglich, zu den Türen hineinzukommen. Da entdeckte Vati ein offenes Fenster. Er packte uns nacheinander und warf uns durch dieses Fenster kopfüber in den Zug. Wir rappelten uns hoch, da ruckte der Zug schon an. »Und du?« schrien wir im Chor.
»Er will da bleiben, bis alle Gemeindeglieder fort sind«, sagte Mutti. Wir fuhren, stiegen um, standen in Viehwaggons und Militärzügen und hielten uns eisern fest. Vor den großen Fliegerangriffen passierten wir Frankfurt an der Oder, Dresden und Hof und kamen nach vier Tagen nach Baden, in die Heimat meiner Mutter. Onkel Max empfing uns mit Wehklagen. »Eben hat Paul-Gerhard aus Hof angerufen«, jammerte er, »warum
Weitere Kostenlose Bücher