Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
auf und hechtete ihm hinterher. Er hatte einen Vorsprung von fünfzehn, zwanzig Metern, und sie überlegte, dass sie besser das Auto genommen hätte. Doch jetzt war es zu spät. Er rannte die Straße hinunter, ohne sich umzudrehen. Er war ein Mann und sie eine Frau, aber sie war immer schon eine gute Läuferin gewesen, und sie war austrainiert. Trotz ihrer dicken Winterkleidung, die sie schwerfällig machte, kam sie immer näher an ihn heran. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit ihm tun sollte, wenn sie ihn eingeholt hatte. Ihre Dienstwaffe hatte sie im Schrank auf der Polizeiwache gelassen. Niemand hatte angeordnet, dass man eine Waffe tragen sollte, wenn man Ingrid Johansson besuchte. Im Handschuhfach ihres zivilen Dienstwagens lag ein Paar Handschellen, das wusste sie, aber wie sollte sie an sie herankommen?
Schon vor der Kreuzung am Olvonbacken hatte sie ihn erreicht. Sie stürzte sich mit ihrem ganzen Gewicht von hinten auf ihn, und er fiel in voller Länge auf den nassen Asphalt. Sie setzte sich rittlings auf ihn und bog ihm die Arme auf den Rücken. Dann atmete sie ein paar Sekunden durch, bevor sie das Handy aus ihrer Jackentasche zog. Sie wählte Sjöbergs Nummer. Er antwortete, bevor sie überhaupt ein ausgehendes Signal gehört hatte.
»Hier ist Petra«, keuchte sie ins Telefon. »Ich habe Thomas Karlsson vor Ingrid Johanssons Haus festgenommen. Ich brauche Verstärkung, schnell.«
Sie beendete das Gespräch und steckte das Handy zurück in die Tasche.
»Du bist festgenommen wegen dringenden Mordverdachts in den Fällen Hans Vannerberg, Ann-Kristin Widell, Lise-Lott Nilsson und Carina Ahonen Gustavsson. Du bleibst ganz still liegen und beruhigst dich, verstanden?«
*
Thomas sagte nichts und rührte sich nicht von der Stelle, aber die Tränen strömten sein Gesicht hinunter, und er spürte, wie sich die eisige Kälte des Asphalts durch seine Wange in seinen Körper hineinfraß, wo sie schließlich sein Herz umklammerte, bis es nur noch ein kleines, messerscharfes Stückchen Eis war.
Zwölf Minuten später saß er in Handschellen auf dem Rücksitz eines Streifenwagens und bibberte vor Kälte.
MONTAGNACHMITTAG
Erneut saß Sjöberg an seinem Schreibtisch und hatte ein Sandwich vor sich liegen, und erneut hatte er Schwierigkeiten, sein Mittagessen herunterzubekommen. Denn in ebendiesem Moment war ein Streifenwagen zu ihm unterwegs, auf dessen Rückbank ein mutmaßlicher Serienmörder saß. Ein vierundvierzigjähriger Mann, der weder vorbestraft noch anderweitig mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, der niemals aufgefallen war, sondern in seiner kleinen Wohnung auf Kungsholmen ein ruhiges Leben in Einsamkeit gelebt hatte. Er hatte immer seine Rechnungen bezahlt und niemals Kontakt zum Sozialamt oder zu psychiatrischen Einrichtungen gehabt. Trotzdem war er soeben als mutmaßlicher Mörder in vier Mordfällen mit sadistischen Elementen verhaftet worden.
Das war verblüffend. Welches Ereignis konnte diese dunkle Seite in ihm zum Vorschein gebracht haben? Die Opfer waren alle Menschen, die er höchstwahrscheinlich seit seiner Kindheit nie mehr wiedergetroffen hatte.
Als Sjöberg die Nachricht von der Festnahme zu Ohren gekommen war, hatte er zunächst Verstärkung für Westman angefordert und dann Hamad und Sandén aus Sundbyberg zurückbeordert, wo sie nach der letzten Person aus dem Großraum Stockholm gesucht hatten, mit der sie noch nicht gesprochen hatten. Jetzt saßen sie vermutlich im Auto und bereiteten sich auf die offizielle Vernehmung vor, bei der Thomas Karlsson formell mitgeteilt werden würde, dass er des Mordes verdächtigt wurde. Sjöberg war angesichts der Konfrontation mit Karlsson äußerst angespannt und fragte sich, wie er mit dessen Angst und Nervosität umgehen sollte. Vielleicht sollten sie einen Psychologen hinzuziehen? Nein, all diese Dinge konnten warten. Jetzt galt es in erster Linie sicherzustellen, dass sie den Richtigen erwischt hatten, sodass mögliche weitere Taten ausgeschlossen waren.
Das Telefon klingelte – zum wievielten Mal, wusste er nicht. Im Laufe des Vormittags war er unter telefonisches Dauerfeuer genommen worden, von den Kollegen, die im ganzen Land an den Ermittlungen beteiligt waren, von den Journalisten, die über den Fall Vannerberg auf dem Laufenden gehalten werden wollten, vom Staatsanwalt und vom Polizeipräsidenten und von vielen anderen mehr. Jede Anfrage hatte er gewissenhaft beantwortet. Jetzt war es Mia, seine Schwägerin, die mit ihm sprechen
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