Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
Flüssigkeit bescherte ihr Übelkeitsattacken, aber indem sie ein paar Mal trocken schluckte, konnte sie das unangenehme Gefühl vertreiben.
Ihr Blick wanderte in dem kleinen Zimmer umher und blieb an einer eingerahmten Fotografie von ihr und ihren Schwestern hängen. Ein Bild aus einem längst vergangenen, glücklichen Sommer in einem Ferienlager. Sie saß auf einem kleinen Pony, flankiert von ihren Schwestern. Es war lange her, seit sie das letzte Mal von ihnen gehört hatte. Es müssen mindestens fünf Jahre sein, dachte sie, es war damals, als ihr Vater gestorben war. Marie-Louise, die Älteste, hatte einen Amerikaner geheiratet und lebte auf einem Hof mit Pferden in Ohio. Viola geisterte mit einem völlig idiotischen Mann, den Ann-Kristin nur ein einziges Mal gesehen hatte, in Asien herum und war vermutlich ständig zugedröhnt, falls sie noch lebte. Viola hatte immer nur getan, was sie wollte, hatte sich treiben lassen, die Schule geschmissen und sich in die Welt hinausbegeben, ohne Ziel und ohne Geld.
Sie selbst war wohl nicht viel besser, aber zumindest nahm sie keine Drogen. Sie hatte sich mit fünfzehn Jahren unglücklich gemacht, wie man so schön sagte, auch wenn es nicht wirklich ein Unglück gewesen war. Es war Widell gewesen, ihr Nachbar in Julita, wo sie wohnten, der mit ihr auf einem von Papas Festen geknutscht hatte. Er war voll gewesen, Papa war voll gewesen, und sie selbst war auch voll gewesen und hatte wohl nichts dagegen einzuwenden gehabt. Dann hatte Widell sie mit in die Sauna gezogen, was sie nicht gemocht hatte, aber die alten Knacker hatten sie angefeuert, sodass sie sich, so im Suff, wohl nicht so dagegen gesträubt hatte, wie es nötig gewesen wäre. Eine Weile später zog sie auf die andere Seite des Gartenzauns in das Nachbarhaus, und noch ein paar Jahre später wurde geheiratet. Drei Kinder in ebenso vielen Jahren hatten sie bekommen, aber sie waren mittlerweile alle ausgeflogen. Widell war ums Leben gekommen, nachdem ihm vor zehn Jahren ein Mähdrescher die Hand abgerissen hatte, und sie hatte das zum Anlass genommen, dieses gottverdammte Loch zu verlassen und in die Hauptstadt zu ziehen.
In Stockholm hatte es keine Jobs für sie gegeben, aber eine Weile konnte sie von Widells Geld leben. Nach ein paar Jahren hatte sie ihr »Business« gestartet, wie sie es zu nennen pflegte, und es war ja schon eine Verbesserung, dass sie ein bisschen Geld für ihre Mühen kassierte, nachdem sie es neunzehn Jahre lang gratis für einen geilen alten Sack wie Widell gemacht hatte. Zu Beginn, als sie die Kinder noch zu versorgen hatte, war nicht so viel übrig geblieben, aber in den vergangenen Jahren hatte sie stapelweise Geld zur Seite geschafft. Es war ihr Traum, nach Ohio zu ziehen und auf dem Hof ihrer Schwester zu wohnen und zu arbeiten. Eine Einladung hatte sie schon seit Langem.
Sie drückte die Zigarette aus und stellte den Aschenbecher auf den Boden zurück. Nach einer kurzen Dusche föhnte sie ihre Haare, legte ein ziemlich hartes Make-up auf, zog sich eine Jeans und ein T-Shirt an und eilte zum Laden hinunter. In ihren Korb legte sie sechs Dosen Bier, Coca-Cola, Saft und ein bisschen Brot. Die Verkäuferin gab ihr drei Schachteln Zigaretten, las die Preisschilder auf den Waren ab und kassierte, ohne ihr in die Augen zu schauen. Wenn sie Kondome in ihren Korb gelegt hätte, wäre sie aus dem Glotzen bestimmt nicht mehr herausgekommen, dachte Ann-Kristin, aber so etwas kaufte sie niemals im Laden um die Ecke ein. Sie hoffte, dass die Nachbarn nicht gemerkt hatten, womit sie ihr Geld verdiente. Das war der große Vorteil, wenn man im zweiten Untergeschoss wohnte – man war der einzige Mieter im ganzen Stockwerk, und es gab keine Nachbarn, die gegen die Wände hämmerten oder beobachteten, was man so trieb.
Nachdem sie die Wohnung flüchtig geputzt hatte, zog sie sich aufreizendere Kleidung an, sprühte sich ein bisschen Parfum hinter die Ohren und in den Ausschnitt. Anschließend setzte sie sich mit einem Drink und einer Zigarette vor den Fernseher und wartete auf den ersten Kunden des Abends.
*
Thomas stockte der Atem, als er sie wiedersah. Sie war ein wirklich süßes Kind gewesen, wenn man von dem gemeinen Lächeln und dem berechnenden Blick einmal absah. Jetzt war sie dick und wabbelig, mit strähnigen blondierten Haaren und einem Make-up, wie es ein anständiger Mensch kaum tragen würde. Vorhin, als sie die Treppe hinaufgehastet war und sich nur im T-Shirt in die Novemberkälte
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