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Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman

Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman

Titel: Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carin Gerhardsen
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damit sie den Wagen leichter herausbugsieren konnte. Sie akzeptierte seine Hilfe, ohne sich zu bedanken, und er fühlte sich wieder zu einem Nichts degradiert.
    Aber er nutzte die Gelegenheit, schlüpfte durch die geöffnete Tür hinein und studierte die Namensschilder, bis er gefunden hatte, was er suchte: Widell, zweites Untergeschoss. Man konnte in diesen hohen Häusern also auch unter dem Straßenniveau wohnen. Er ging die Treppen hinunter und nahm den gleichen Geruch wahr wie damals in dem Mietshaus seiner Kindheit in Katrineholm. Der Geruch ging vom Fußboden aus – weißer Bodenbelag mit schwarzen Flecken, die vielleicht wie Steine aussehen sollten. Er mischte sich mit dem Geruch von Essen, insbesondere dem von Fisch, der hinter den braunen, glatten Holztüren der Wohnungen hervordrang. Er fand die Tür. »Widell« stand kurz und knapp auf dem Briefschlitz, darüber hinaus gab es keine weiteren Hinweise darauf, welche Art Menschen hinter dieser Tür wohnten. Er überlegte, ob er nicht wieder hinausgehen und versuchen sollte, in ihre Fenster zu gucken, aber die Dunkelheit und die Kälte wirkten wenig verlockend. Es waren bislang nur wenige Menschen in diesem Treppenhaus aufgetaucht, daher glaubte er nicht, dass er in absehbarer Zeit noch einmal hineingelangen würde. Vermutlich hatte sie ohnehin die Jalousien heruntergezogen, um sich vor den Blicken der Passanten zu schützen. Also ging er hinauf und setzte sich auf die Treppe, die vom Erdgeschoss in den ersten Stock führte. Von hier aus konnte er überblicken, wer aus dem Untergeschoss nach oben kam.
    Er hatte keine genaue Vorstellung davon, wie lange er so warten wollte. Er saß einfach nur da und dachte darüber nach, wie sie sich im Laufe der Jahre entwickelt haben mochte. Nicht wie Hans, dachte er, wenn sie hier wohnte, dann nicht wie Hans. Hier können nur unglückliche Menschen wohnen. Kein Mensch würde freiwillig hier wohnen wollen. Wie konnte ein Mensch wie Ann-Kristin, die alle Kinder dazu brachte, nach ihrer Pfeife zu tanzen, unglücklich werden?
    Er erinnerte sich, wie Ann-Kristin ihm eines Tages, als er auf dem Heimweg war, befohlen hatte, bei den Mädchen zu bleiben und mit ihnen Seil zu springen. Jeder andere Junge hätte sich geweigert, aber nicht er. Er tat, was ihm befohlen worden war, und das sogar mit einem gewissen Enthusiasmus, schließlich durfte er tatsächlich einmal mitmachen. Doch er konnte gar nicht hüpfen, er verfing sich nur mit dem Fuß im Hüpfseil. Ann-Kristin hatte die Situation natürlich blitzschnell erfasst. In null Komma nichts hatte sie einem der Mädchen das Seil aus der Hand gerissen. Dann tanzte sie zusammen mit dem anderen Mädchen um ihn herum, immer und immer wieder, bis er von Kopf bis Fuß eingerollt war – alles unter dem lauten Jubel der anderen Mädchen. Schließlich brachte sie ihn zu Fall, sodass er auf dem Boden lag und sich wie in einem Kokon hin und her wand. Sie schleppten ihn zusammen auf die Straße, und dort – mitten auf der Fahrbahn – ließen sie ihn zum Sterben zurück.
    Er erinnerte sich an die Panik, die ihn erfasst hatte, als er ganz hinten am Ende der Straße einen Laster um die Ecke kommen und direkt auf sich zufahren sah. Er schrie aus vollem Hals. Die Mädchen hatten sich hinter ein parkendes Auto gehockt und blieben in Deckung, aber sie konnten ihre Begeisterung nicht verbergen. Der LKW -Fahrer hatte ihn entdeckt, brachte seinen Laster zum Stehen und sprang zu ihm herunter. »Was für ein beschissener Ort, um Cowboy und Indianer zu spielen!«, fluchte er, wickelte das Hüpfseil ab und verpasste ihm eine Ohrfeige. Thomas lief nach Hause, so schnell ihn seine Füße trugen, und die Tränen strömten ihm die Wangen hinunter. Er wagte es nicht, noch einen Blick zurück zu dem Auto zu werfen, hinter dem die Mädchen saßen und kicherten. Wie also konnte die fröhliche, beliebte Ann-Kristin hier draußen im Vorstadtghetto hocken und Trübsal blasen?
    *
    Als sie aufwachte, war es draußen schon dunkel. Sie schaute zur Uhr auf dem DVD -Spieler und stellte fest, dass es schon nach sechs war. Sie schaltete die Nachttischlampe an, angelte nach dem Aschenbecher auf dem Boden und stellte ihn auf ihrem Bauch ab. Die Zigaretten waren fast alle, sie musste noch vor sieben zum Laden hinunter und neue kaufen. Sie zündete eine an und nahm ein paar tiefe Züge. Eine halb volle Bierdose stand auf dem Nachttisch, und sie leerte sie in einem Zug. Was sie sofort bereute. Die lauwarme, abgestandene

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