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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Andernfalls hätte ich unsere stillschweigende Übereinkunft gebrochen, zu ignorieren, dass wir beide dem alten Gallion alles Böse zutrauten. Hätte ich darauf bestanden, dass jemand Emmas Motorhaube geöffnet hatte, dann hätten Weckerle oder seine Kollegen ermitteln müssen. Der alte Polizeihauptmeister wäre am Ende sogar bereit gewesen, seiner Abneigung gegen Gallion nachzugeben und sich in die Nesseln zu setzen. Aber lieber war es offensichtlich auch ihm, wenn er dies erst dann tun musste, wenn es statt Verdachtsmomenten konkrete Beweise gab.
    »Ihnen und Ihrer Mutter ist ja nichts passiert«, resümierte er. »Wann kehren Sie nach Stuttgart zurück? Morgen? Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf …« Er sah mich an und sprach den Rat, mich künftig vom Gestüt fernzuhalten, dann indirekt aus: »Zu den Gallions haben Sie sowieso nie recht gepasst.«
    Mit einiger Verwirrung schob ich das Fahrrad übers Kopfsteinpflaster in die Fußgängerzone. In Wahrheit hat te ich dem Polizisten das Ebereschenblatt unter Emmas Motorhaube nicht deshalb verschwiegen, weil ich ihm Ermittlungen gegen Gallion ersparen wollte. Es war das Unbehagen, das mich angefallen hatte, als ich dem Polizisten erklären sollte, dass auch bei Todts Unfall die Bremse versagt hatte. Seit fünf Jahren bemühte ich mich, einen Streit zu verdrängen, den wir kurz vor dem Unfall gehabt hatten, und rang mit Schuldgefühlen. Doch hatte ich genau damit im Grunde die Verantwortung für Todts Tod übernommen, genauso egozentrisch, wie er sich für Siglindes Sturz vom Baum verantwortlich gefühlt hatte. Alles Krampf, wenn jemand seine Finger in den Bremsleitungen des Porsche gehabt hatte. Mit meiner Erinnerung an den Unfall hatte ich in Wahrheit die Ahnung verdrängt, dass es Mord gewesen war.
    Leute wie Todt und ich übernahmen eben lieber die Verantwortung, als andere schuldig zu sprechen. Es wäre nämlich damals für mich aussichtslos gewesen, den Gallions Vorwürfe zu machen, nicht nur moralische, sondern ganz konkrete, die ich hätte beweisen müssen. Wie eine Irre mit feuerroten Narben hätte ich gleich nach meinem Unfall in Vingen herumgeistern können und behaupten, mein Mann sei von denen im Gestüt ermordet worden. Das hatte ich mir ersparen wollen. Stattdessen war ich Journalistin geworden und hatte andere Mordfalle aufgeklärt, weil Verdrängung eben zu zwanghaften Handlungen führt.
    Mir schwindelte auf dem Gallion’schen Schmuckpflaster in der Fußgängerzone. Ich fühlte die Blicke der Vingener auf mir. Da standen die beiden alten Frauen mit Gemüse in den Einkaufstaschen an der Ecke und wandten die Augen ab. Scheel glitzerten die Blicke der Kids in Schlaghosen, die vorm Schlecker in Haarlacken wühlten. Das junge Paar, grau vor Arbeitslosigkeit, schob den Kinderwagen zwischen meinem Fahrrad und einer Benetton-Auslage hindurch. Sie alle hatten wie PHM Weckerle längst aufgehört zu hoffen, dass eines Tages einer käme, der sie von den Gallions befreite, dem Segen und Fluch des Dorfes, dem Großgrundbesitzer und Spen der, dem Herren über Wohlstand und Wehe. Zwar verlieh seine Pferdezucht dem Ort an der Schwäbischen Alb internationalen Rang, aber Vingen selbst blieb doch immer nur das Kaff am Rande. Die Demütigung war sub til, nicht groß genug zum Aufstand, aber doch ausreichend für böse Wünsche.
    Zwischen Volksbank und Rathaus träumte ich von meiner und ihrer Erlösung. Wozu hatte ich denn in all den Jahren gelernt, in Mordfällen zu recherchieren, wenn ich mein Können jetzt nicht einsetzte, um den General zu erledigen?
    »He! Hallo, Lisa!«
    Petra Graber saß auf dem Brunnen vor dem Rathaus und winkte mir zu. Bei ihr befanden sich ein strichdürres Mädel in Plastikhosen und zwei Jungs auf Inlineskates, die mich mit aufgeworfenen Schnuten und der Hochnäsigkeit der Jugend als Erwachsene disqualifizierten, die mit Herrenfahrrad und Herrenjackett voll daneben war. Inmitten dieser nabelfreien und baseballbemützten Sinnlosigkeit strahlte Petra wie ein Juwel. Ich schluckte sehr viel mächtige Erregung hinunter.
    »Wo gehst du hin?«, fragte sie.
    In Vingen fragte niemand: »Was machst du hier?« Es war nicht überraschend, in der Fußgängerzone einen Bekannten zu treffen. Man traf sich ständig. Deshalb fragte man immer: »Wo gehst du hin?« Als ob sich neue Ziele auftun könnten.
    Meine Seele war auf dem Weg zu ihr gewesen. Sie suchte seit gestern nur noch den Rückweg in Petras gepolstertes Kinderzimmer. Aber das konnte ich jetzt nicht

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