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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Abgründe.
    Warum identifizierte Bongart seine Tochter, wenn es seine Exfrau war? Er war Donnerstagabend im Gestüt gewesen, vielleicht, um den Streit ums Sorgerecht außergerichtlich zu gewinnen. Heide konnte Vanessa nicht gehen lassen, wenn er der Tochter die Villa überschrieben hatte, in der Heide lebte und leben wollte. Aber wie ging es nun weiter? Hoffte ein Ministerialbeamter wirklich, dass die Polizei nicht dahinterkam, dass die Leiche nicht die einer Fünfzehnjährigen, sondern die einer Vierzigjährigen war, so ähnlich sich Mutter und Tochter auch gewesen sein mochten? Glaubte er, dass er seine Tochter in Internaten, womöglich im Ausland so lange verstecken konnte, bis der Fall abgeschlossen war?
    Oder war es überhaupt ganz anders? Bongart hatte zwei Dinge von mir nicht unbedingt wissen wollen: wo seine Exfrau war und wie Vanessas Freund hieß. Nicht nur Vanessa, auch Ronni war im Moment verschwunden. Immer war mir Bongarts Trauer um seine Tochter entweder hilflos oder inszeniert vorgekommen. Er trauerte nicht, er hatte Vanessa nur deshalb als Opfer identifiziert, weil er sie als Täterin schützen wollte. Das Hirn eines fünfzehnjährigen Scheidungskindes mochte zu Kurzschlüssen neigen. Die Mutter war eine Stallnutte. Die Männer stritten sich um sie. Ihr Vater floh vor dem Gelächter von Vingen nach Stuttgart. Die Mutter durfte in der S-Gruppe mitreiten, Vanessa nicht. Dann, an jenem Donnerstagabend, als Heide darauf bestand, ihre Tochter in Stuttgart beim Vater abzuliefern, und mit einem Anruf drohte, kaum wäre sie im Hotel auf Teneriffa angekommen, und weitere mütterlich besorgte Anrufe im Haus des Vaters ankündigte, und als Vanessa klar wurde, dass nicht nur das Wochenende mit Ronni gefährdet war, sondern der ganze Plan, da verlor sie Nerven und Kontrolle. Da stand die Mistgabel, da keilte auch schon Prinz los. Aus dem Teenagerdrama triefte Blut. Vanessa radelte heim und rief Ronni zu Hilfe. Der wusste keinen Rat. Also rief sie den Vater an. Wen auch sonst? Er kam, schickte die Kinder fort, besah sich die Leiche, befand, dass sie nicht wegzuschaffen war, nahm ihr allen Goldschmuck ab, fuhr Heides Auto vom Parkplatz, als im Gestüt alle schliefen, und kam am andern Tag – auffällig schnell nach dem Telefonat mit mir – als besorgter Vater nach Vingen, um seine tote Tochter zu identifizieren.
    Irgendwann mussten die Gerichtsmediziner allerdings merken, dass sie eine Vierzigjährige auf dem Seziertisch hatten. Spätestens, wenn der Zahnarzt sich übers Gebiss wunderte und wenn sie dann die Verknorpelung der Knochenspalten untersuchten, die Hinweise aufs Alter gaben. Es mochte an Kommissarin Feils Ungeschick im Umgang mit Kollegen liegen, dass sich niemand damit beeilte und dass ein Bericht jetzt am Wochenende nicht auf ihrem Schreibtisch landete. Aber spätestens am Montag würde Bongart, mit der Identität der Leiche konfrontiert, die Tat auf sich nehmen und gestehen, dass er im Zorn seine Exfrau getötet hatte.
    »Und wo ist Ihre Tochter?«, würde man ihn fragen.
    »Mit Ronni auf Teneriffa.«
    Heide hatte ja Flugtickets bei sich gehabt. Dann mussten es allerdings zwei gewesen sein. Das musste man doch herausbekommen können.

20
     
    Ich radelte vom Hotel König hundert Meter weiter zur Polizeiwache am Ortsausgang gen Metzingen. Hauptmeister Weckerle standen die fünfzig Jahre samt Nachtschicht und Überstunden im Gesicht. Seine Frau war vor einem halben Jahr an Krebs gestorben. Wir begaben uns in ein Büro, das nach übernächtigten Äpfeln und Bananen roch.
    »Warum haben Sie mir denn gestern Nacht vorenthalten, dass es im Gestüt bereits ein mutmaßliches Gewaltverbrechen mit tödlichem Ausgang gegeben hat?«, fragte er und blickte streng.
    »Ich dachte, Sie wüssten das. Ihre Kollegen waren doch am Tatort.«
    »Nun«, blinzelte er, »äußerten Sie gestern allerdings den Verdacht, dass es bei Ihrem gestrigen Unfall und bei dem Unfall Ihres verstorbenen Gatten vor fünf Jahren nicht mit rechten Dingen zugegangen sei.« Weckerle musterte mich mit tränenden Nachtschichtaugen.
    »Ich erinnere mich nicht an den Unfall vor fünf Jahren«, sagte ich überrascht, weil sich bei mir plötzlich Unbehagen einstellte, »nicht wirklich. Gestern, das war nur so ähnlich wie damals. Wieder sind wir an einen Baum gefahren. Vielleicht habe ich darum gedacht, auch damals müsste die Bremse versagt haben. Das Gehirn verschmilzt manchmal ähnliche Szenen und projiziert Dinge in die Erinnerung, die gar nicht

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