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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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war ein Ohrring, genauer, ein goldener Stecker mit Brillant von beachtlichem Karat. Ihm fehlte das Steckflügelchen, mit dem man ihn im Ohr fixierte. Rausgerissen, vielleicht einer Toten.
    Ich hielt mich am Fahrrad fest. Unsere Phantasie malte sich den Mord als Folge eines intelligenten Wollens aus, verschleiert und vertuscht von der taktischen Intelligenz eines Bongart oder der strategischen Genialität des Generals, aber am Ende war es doch nur platte Gewalt und schwachsinnige Geilheit. Am Ende war es eben doch Vanessa, das Mädchen, das dem Knecht in die Hände geraten war. Der Teufel Alkohol war’s. Das hatte Aggi schon gestern jedem entgegengebrabbelt.
    Jetzt schleifte man den blöden Burschen übern Hof zum Haupthaus, wahrscheinlich, um ihn in seiner Koje abzulegen, bis der Arzt kam. So wie ihm der Schädel brummte, würde er sich heute nicht mehr davonmachen. Ich musste mit Siglinde reden. Sie konnte ihn nicht wegjagen, solange der Tod in Prinz’ Box nicht aufgeklärt war.
    Ich lehnte Hajos Fahrrad an die Wand unterm Bürofenster.
    Am Hänger vor der Remise gab es einen Tumult. Die Stute wollte nicht hinein, sie scheute an der Rampe. Ihr Schweif war für ein Turnier gewickelt und die Mähne zu Zopfknötchen geflochten. Oben im Hänger stand eine Frau und lockte mit Hafer.
    Ich wandte mich der Ars zu. Hinter dem alten Stall erhob sich die große Scheune. Auf dieser Seite endete ein Asphaltweg an ihren riesigen Schiebetoren für die Heuwagen. Auf der anderen Seite führte eine Rampe fürs Stroh in die zweite Ebene. Im Spätsommer war sie bis unters Dach mit den übermannshohen Heu- und Strohwalzen gefüllt. Im Innern solcher Massen konnten Gärungsprozesse die Temperatur bis zur Selbstentzündung treiben. Jetzt, Anfang Juni, zerfielen die Vorjahresreste in der Halle. Lichtstrahlen spießten durch Lattenritzen in den tanzenden Staub. Kein Mensch, der einmal mit ganzer Lunge die Schärfe von angegorenem Stroh und Heu eingesogen und ausgehustet hatte, träumte noch von einer Nacht im Heu. Den Allergikern unter den Pferden streute man Sägespäne ein.
    Erst sah ich Siglinde in der großen lichtdurchspießten Dämmerung nicht. Staubwölkchen wallten. An den Wänden lauerten die Heuräder, manche schon von Mistgabeln zerrissen, andere fest wie Mühlsteine. Links vom Eingang stand Siglinde in Reithosen und schimmernden Stiefeln, die Hände in die Hüften gestützt, das Kinn gehoben, die Augen funkelnd.
    »Was willst du? Was spionierst du mir nach?«
    »Aber, Siglinde.«
    Sie kam herbei, ein wenig zu schnell. Fast überfallartig trat sie an mich heran, jeden Muskel gespannt für sofortige Selbstverteidigung, notfalls mit der Hand, sollten die Worte nicht ausreichen.
    »Was ist denn los?«, fragte ich auf Ruhe bedacht. »Du hättest Aggi wirklich fast totgeschlagen. Er hat sich mindestens das Nasenbein gebrochen, wenn nicht auch den Kiefer.«
    »Was geht dich das an, eh?«
    »Es mag ja sein, dass er ein Mensch ist, der das Wort Mensch nicht verdient. Es mag sogar sein, dass er es war, der Vanessa getötet hat, aber …«
    »Außerdem hat er Arabal vergiftet!«
    »Meinst du wirklich?«
    »Jetzt wollte er es wieder tun. Das ist doch klar. Auf frischer Tat ertappt.«
    Ich drehte das Eibenzweiglein in den Fingern. »Aggi wusste, was das ist. Das stimmt. Aber er war keineswegs im Begriff, es einem Pferd zu geben, auch wenn das Pferd so aussah, als hätte es große Lust, sich damit zu vergiften. Ich frage mich, wo hat Aggi den Zweig her? Besonders frisch sieht er nicht aus, nicht wie heute gepflückt.«
    »Weißt du was«, sagte Siglinde mit einem spitzen Un terton, »ich habe Klugscheißer wie dich satt.«
    Ihre Wut war noch nicht verraucht, so schnell ging das nicht. Aber sie hatte bis auf ihre Stimme alles unter Kontrolle. Mich interessierten im Moment tatsächlich weder Arabal noch Aggi noch Vanessa. Ich wollte wissen, wa rum ich vorhin so plötzlich in den Strudel ihres furchtbaren Zorns geraten war.
    »Was habe ich dir denn getan, Siglinde?«
    »Ach lass mich doch in Ruhe. Immer diese Fragen. Was mischst du dich überhaupt in alles ein? Hau endlich ab. Geh zurück in deine Stadt. Wir brauchen dich hier nicht.«
    »Ist ja okay.«
    »Ist gar nicht okay. Immer musst du das letzte Wort haben. Immer spielst du die Vernunft in Person. Aber ich brauche deine Ratschläge nicht. Ich komme allein klar.«
    »Es tut mir leid, wenn der Eindruck entstanden sein sollte, dass ich …«
    »Jetzt halt dein Maul!« Siglinde kreischte.

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