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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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N wie neulich, E wie Erich und noch mal N wie neulich. Was heißt das?«
    »Vingen.«
    »Na sehen Sie.«
    Ich hielt das V und das Schluss-N zu. »Und jetzt?«
    Er grübelte redlich und schüttelte dann den Kopf.
    »Siehst du, Mama, so geht das nicht.«
    Sie kehrte schnaufend an die Spüle zurück. In Hajos Augenwinkeln hockte die Überzeugung, dass er zu blöd war.
    »Vergiss Vingen«, sagte ich und drehte das Papier mit der weißen Rückseite nach oben.
    »Es hat keinen Sinn«, sagte er. »Das lerne ich nie.«
    »Richtig. Du lernst es nie. Aber ich will wissen, wa rum. Klar?«
    »Sei doch nicht so ungeduldig«, sagte meine Mutter. »Das geht doch nicht von heut auf morgen.«
    Hajo machte Anstalten aufzustehen.
    »Sitzen bleiben!«, sagte ich.
    »Ich muss jetzt sowieso …«
    Ich schnalzte mit der Zunge.
    Er lehnte sich zurück und atmete langsam aus. »Okay. Also da das A und da das O. Das werde ich mir merken.«
    »Okay. Dann der Nachname.«
    Ich notierte Lern und erklärte ihm die drei Buchsta ben. »Pass auf, jetzt nehme ich diese drei, stelle sie etwas um und tue einen vierten dazu, das H von Hajo. Okay?«
    Ich schrieb HELM, malte jeden einzelnen Buchstaben groß und deutlich, tönte ihm jeden vor, hauchte das H, blökte »eeee«, lallte »llllll« und summte »mmmm«. Einzeln abgefragt, konnte er die Buchstaben benennen. Hoffnung kam auf.
    »Und nun das Wort. Was heißt das nun? H-eeee …«
    »Ist es ein Wort, das es gibt?«, erkundigte er sich. »Mehl?«
    »Das heißt Helm«, sagte meine Mutter resolut. »Sie müssen von links nach rechts lesen. Lisa, das hättest du ihm aber auch gleich sagen müssen. Was du machst, hat überhaupt keine Methode. Außerdem haben wir in der Schule mit dem I angefangen.«
    Ich atmete durch. »Und wir mit Hans und Lotte. Es gibt verschiedene Methoden.«
    Trotzdem hatte sie recht. Sie hatte immer recht. Ich krempelte mein Hirn auf links und schrieb MLAH. Seine Antwort kam blitzschnell, wenn man berücksichtigte, dass er mittlerweile verunsichert war und mehr nach dem suchte, was ich hören wollte, als dem zu vertrauen, was sich von dem, was er sah, in seinem Hirn spiegelte. »Ha … Halm.«
    »Jawohl! Richtig! Wunderbar!«
    Hajo lächelte verblüfft.
    »Erinnerst du dich«, sagte meine Mutter, »der kleinen Sabine, der Nichte von Tante Martha, mussten sie am Anfang auch immer einen Spiegel hinhalten, damit sie vorlesen konnte. Sie war auch Linkshänder.«
    Leider ließ sich der verblüffende Effekt mit komplizierteren Wörtern nicht wiederholen. Hajo spiegelte nicht einfach. Er las weder von links noch von rechts, sondern fasste ein Gesamtbild ins Auge. Das ermöglichte es ihm zwar, Worte, die er oft gesehen hatte, zu erkennen, nicht aber, sie zu zergliedern und zu buchstabieren. Bei längeren Worten griff er sich optisch prägnante Buchstabengruppen heraus, die er bevorzugt im Gegensinn las und dabei der Sprechbarkeit anglich. So entstand aus Kühlungsborn ein »Kül-gnus-rob«.
    »Sehr schön«, sagte ich, »du kannst im Prinzip lesen.«
    Er konnte sich meiner Begeisterung nicht ganz entziehen.
    »Ich habe im Fernsehen einen Bericht gesehen«, sagte meine Mutter, »wo sie den Kindern in Ostdeutschland Lesen und Schreiben beigebracht haben. Wie heißt das? Legatiker?«
    »Legastheniker«, sagte ich. »Heute nennt man das, was die haben, Dyslexie.«
    »Genau. Die konnten alle nicht richtig lesen. Sie ha ben gesagt, dass die nicht richtig im Kopf sind …«
    Ich sah Hajo irritiert blinzeln.
    »Die denken links herum, hat es geheißen.«
    Was auch immer das hieß. Ich beeilte mich, Hajo zu erklären, dass meine Mutter nicht meinte, dass er oder alle Kinder in Ostdeutschland schwachsinnig seien. »Es ist die zeitlich lineare Ordnung, die dir Schwierigkeiten macht, das banale Nacheinander. Aber wenn du hochkomplexe Dinge wie den Zustand eines Pferdes beurteilen musst, dann bist du mit deinem ganzheitlichen Blick im Vorteil. Du siehst alles auf einmal.«
    »Männer sind überhaupt intuitiver«, behauptete meine Mutter. »Das sage ich schon immer. Sie können nicht logisch denken. Gell, Herr Lem. Dabei ist es so einfach. Viel einfacher, als Sie denken. Sie müssen halt nur alles, was einer sagt, von links nach rechts in Töne und Buchstaben zerlegen und von links nach rechts hinschreiben und ablesen, und nicht so durcheinander, wie es in Ihrem Kopf herumschwirrt.«
    »Das ist alles?«
    Dennoch sah ich den Berg vor mir, den er vor sich hat te, wenn er sein vielschichtiges Sehen, Hören

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