Pflicht und Verlangen
repräsentatives Stadthaus am
Berkeley Square, in dem die Mitglieder der Familie Wellesley und
deren Angehörige häufig die Saison verbrachten. Letztes
Jahr war Lady Battingfield durch den Umzug nach Dullham Manor nicht
in den Genuss gekommen und freute sich nun umso mehr auf die ersehnte
Abwechslung.
Charlotte
konnte sie verstehen. So waren die Interessen dieser Frau nun einmal
gelagert. Sie passte nicht aufs Land und wirkte, so wie sich
Charlotte immer auf den Festgesellschaften fehl am Platze fühlte,
in dieser ländlichen Idylle völlig deplatziert. Sie
brauchte Menschen um sich, die sie bewunderten und ihre strahlende
Erscheinung lobten. An Battingfields Seite bekam sie einfach zu wenig
von diesem für sie notwendigen Lebenselixier. Charlotte hatte
den Eindruck gewonnen, dass er selbst für die unbestreitbaren
körperlichen Reize seiner Frau nicht allzu viel Bewunderung
aufbrachte.
Schon
seit Tagen dachte Charlotte darüber nach, ob sie der wiederholt
ausgesprochenen Einladung von Lady Battingfield, sich dem Paar auf
der Reise nach London anzuschließen, Folge leisten solle.
Vielleicht würden sich die unübersehbaren Spannungen
zwischen den Eheleuten in London legen, wenn Lady Battingfield mehr
in ihrem Element sein konnte? So gern sie hier auf Dullham Manor
weilte, stellte die schwierige Situation der beiden Menschen, die
durch ein vielleicht unbedachtes Ehegelöbnis aneinander gebunden
waren, doch eine gewisse Belastung für sie dar. Sie hatte in
ihrer Unentschlossenheit auch an Mary Fortescue geschrieben, mit der
sich während ihres Aufenthaltes auf Dullham Manor ein reger
Schriftwechsel entwickelt hatte. Erst kürzlich hatte Charlotte
ihr mitgeteilt – zusammen mit der bedauerlichen Nachricht, dass
das Ballvorhaben endgültig verworfen worden war –, dass
Lady Battingfield stattdessen einen Umzug nach London plane und sie
eingeladen habe mitzukommen. Sie wartete nun gespannt auf Marys
Meinung zu diesem Thema, die über einen besonnenen und wachen
Verstand verfügte.
Der
Captain jedenfalls schien dem Plan sehr wohlwollend gegenüberzustehen
und Lady Battingfield war Feuer und Flamme bei dem Gedanken, die
Rolle der Heiratsvermittlerin zu übernehmen. Eine für
Charlotte nicht unumschränkt positive Vorstellung, aber sie war
sich sicher, dass ihr die Herrin von Dullham Manor wohlwollender
gegenüberstand als es Lady Millford tat. Wenigstens war sie sich
ebenfalls sicher, dass die wie auch immer von ihrer Tante gehegten
Pläne, Mr Terency für ihre Zwecke zu angeln, gescheitert
waren. Er würde es nach den unverzeihlichen Vorgängen auf
Millford Hall sicher nicht mehr wagen, sich dort noch einmal blicken
zu lassen. Ein Umstand, der sie trotz allem Mitgefühl für
Emmy mit Erleichterung erfüllte. Wie es Emmy wohl in der
Zwischenzeit ergangen war? Sie hatte schon länger nicht mehr an
das unglückliche junge Mädchen gedacht und schämte
sich jetzt für ihre Gedankenlosigkeit.
Mitten
in diesen Überlegungen trat Cyril ins Zimmer.
» Was
gibt es, Cyril?«, fragte Captain Battingfield, »eine
Nachricht für mich?«
» Nein
Mylord, eben ist etwas für Miss Millford abgegeben worden.«
Formvollendet verbeugte sich der erfahrene Butler vor Charlotte und
reichte ihr auf einem silbernen Tablett zwei mit einem Band
zusammengefügte Briefe.
» Von
Mary wahrscheinlich«, erklärte Charlotte ihren Gastgebern.
»Ich hatte ihr vor Kurzem geschrieben und sie antwortet immer
rasch.« Gespannt löste sie das rote Baumwollband. Seltsam,
dass es zwei Briefe waren, aber Mary hatte vielleicht etwas vergessen
und noch ein weiteres Schreiben verfasst. Sie hoffte, dass ihre
lebenskluge Freundin ihr zu einem Entschluss würde verhelfen
können.
Die
Briefe waren jedoch nicht von Mary Fortescue. Als sie die Schreiben
genauer in Augenschein nahm, stellte sie fest, dass irgendjemand dem
ersten Brief eine zweite Nachricht hinzugefügt hatte und beides
mit dem roten Band zusammengebunden hatte, um sicherzustellen, dass
sie es auch wirklich erhielt. Sie hatte die Schrift nicht gleich
erkannt, nun aber sah sie, dass die Schreiben aus Millford Hall
kamen.
Das
erste Schreiben trug ohne Zweifel die energische Handschrift ihrer
Tante, das zweite stammte, wie sie beim Auffalten entdeckte, von Mrs
Sooner, die offenbar in großer Hast ein paar Zeilen auf das
Papier geworfen und dem versiegelten Brief Lady Millfords beigefügt
hatte. Mit klopfendem Herzen und bangen Ahnungen las Charlotte
zunächst die wenigen Zeilen von Mrs Sooner und sah
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