Pflicht und Verlangen
Strom
von Tränen aus ihren Augen.
» Aber
du lebst, und wir sind Gott unendlich dankbar dafür«,
sagte ihre treue Freundin wohl zum hundertsten Mal und endlich
schienen ihre Worte auf fruchtbaren Boden zu fallen. »Ich weiß,
es ist schrecklich, aber du hast überlebt. Du bist stark,
Charlotte! Du wirst auch lernen, damit zurechtzukommen. Gib nicht
auf!«
Dieser
Appell erinnerte sie daran, was sie John versprochen hatte. Auch er
hatte sie angefleht, nicht aufzugeben. Sie durfte ihn nicht
enttäuschen. Sie würde ihn nicht enttäuschen. Sie
fühlte sich müde und leer geweint und wollte nur noch
schlafen.
******
Einige
Stunden später wachte sie wieder auf. Es dämmerte bereits.
Mary saß mit einer Handarbeit an ihrem Bett.
» Wie
geht es dir, Liebes?«, fragte Mary teilnahmsvoll.
Sie
seufzte. Nein, es war kein Traum gewesen, es war die grausame
Wahrheit und sie musste sie akzeptieren. »Ich schätze, ich
werde lernen müssen, wie ein alter Seemann herumzulaufen, das
wird ein seltsamer Anblick werden«, versuchte sie, einen Scherz
zu machen, obwohl ihr nicht nach Scherzen zumute war.
» Das
ist die Charlotte, die ich kenne.« Mary legte ihre Handarbeit
zur Seite und setzte sich zu ihr auf das Bett. »Nun können
wir beginnen, an deiner Genesung zu arbeiten. Du willst ja wohl nicht
klein beigeben, oder?«
Charlotte
schüttelte tapfer den Kopf. Nein, das wollte sie gewiss nicht.
Terency sollte nicht gewinnen. Er hatte versucht, sie zu vernichten,
aber es sollte ihm nicht gelingen.
» Kann
ich dir irgendetwas Gutes tun?«, fragte Mary beflissen.
» Ja,
du könntest mir berichten, was sonst noch geschehen ist. Mir
fehlen zwei Wochen in meiner Erinnerung. Wenn ich mich schon
aufraffen will, dann muss ich wissen, was in der Zwischenzeit
geschehen ist.«
Mary
zögerte. »Nun, der Coroner war hier, hat aber eingesehen,
dass du nicht vernehmungsfähig warst.«
» Dann
sollten wir ihm Bescheid geben, dass ich es jetzt bin.«
» Bist
du dir sicher? Vielleicht belastet es dich doch zu sehr, dich wieder
mit den Geschehnissen beschäftigen zu müssen.«
Charlotte
schluckte schwer, meinte dann aber entschlossen: »Mag sein,
dass es mich belastet, aber wenn ich dazu beitragen kann, dass
Terency, dieser Verbrecher, zur Rechenschaft gezogen wird, dann werde
ich alles, was in meiner Macht steht, dafür tun.«
» Warum
hast du mir nicht geschrieben? Du hättest doch zu uns kommen
können!«, fragte Mary mit leichtem Vorwurf in der Stimme.
» Ach,
Mary, ich wünschte, ich hätte es getan. Aber wie Dr.
Williams sagte, was geschehen ist, ist geschehen. Weißt du, es
war nicht leicht für mich in dieser Situation. Ich hatte es
erwogen, zu euch zu fliehen, aber ich hatte doch keine finanziellen
Mittel und kein Auskommen, kein Ziel. Es war aussichtslos und ich
wollte euch nicht zur Last fallen. Deine Familie ist nicht eben
vermögend. Ich wäre nur ein unnützer Esser mehr
gewesen. Außerdem hätten sie bei euch zuerst nach mir
gesucht. Was hätte es für einen Sinn gehabt, mich bei euch
zu verstecken?«
Mary
schüttelte unwillig den Kopf, musste dann aber widerstrebend
zugeben, dass Charlottes Entscheidung zumindest nachvollziehbar war.
» Außerdem«,
setzte Charlotte mit Bitterkeit in der Stimme nach, »wer hätte
mir geglaubt? Nicht einmal Lady Millford hat mir Glauben geschenkt
als ich ihr sagte, dass sich Terency an Emmy, einem unserer
Dienstmädchen, auf gewalttätigste Weise vergangen hat.«
» Er
hat was?«, ihre Freundin sah sie entsetzt an. »Wann ist
das gewesen?«
» Verzeih
mir, Mary, ich konnte es euch nicht berichten, ich hatte mein Wort
gegeben. Aber ich denke, nun ist es an der Zeit, dass dies berichtet
wird. Er tat es, als ihr zu Besuch wart auf Millford Hall. Du
erinnerst dich, dass Terency fortging, um seine Bilder für die
Laterna magica herauszusuchen und merkwürdig lange nicht
wiederkam?«
Marys
Augen wurden riesengroß. »Dieser Unmensch! Und du
wusstest es?«
Charlotte
nickte. »Ich erfuhr es am Tag danach, als ihr gegangen wart.
Ich wollte ja herausfinden, warum sich Terency so schnell
davongemacht hatte.«
Mary
sah sie mitfühlend an: »Du Ärmste, was musst du an
Ängsten ausgestanden haben.«
Charlotte
blickte zur Seite: »Sprechen wir nicht mehr davon! Übrigens
ist Emmy schwanger von ihm. Aber ich konnte sie bei einer
wohlmeinenden Familie unterbringen, sonst hätten wir wohl
wirklich einen Todesfall zu beklagen. Es war ein wahres Glück,
dass Dr. Banning Rat wusste.«
»
Weitere Kostenlose Bücher