Pflicht und Verlangen
Der
Coroner sagt, er hätte auch versucht, dich …«, Mary
sprach nicht weiter.
» Ja,
das ist wahr. Aber ich konnte ihm dank eines glücklichen Zufalls
im letzten Augenblick entweichen, sonst hätte mich wohl das
gleiche Schicksal wie Emmy ereilt.«
» Das
ist ja furchtbar, Charlotte! Wie konnte Lady Millford diesen Menschen
bei sich im Hause dulden?«, Mary war ehrlich empört.
» Das
tat sie, weil sie verzweifelt hoffte, dass meine Verbindung mit
Terency sie aus ihrer Misere retten würde, die sie nach dem Tode
meines Onkels unweigerlich ereilen wird. Sicher, Lady Millford ist
eine kaltherzige Frau und ich hasse sie für die Rolle, die sie
in der ganzen Angelegenheit gespielt hat. Aber sie ist auch ein Opfer
der Umstände.« Charlotte hatte mit einer Erregung
gesprochen, die ihrer Freundin Anlass zur Besorgnis gab.
» Sollen
wir besser nicht mehr davon sprechen, Liebes? Du sollst dich nicht
aufregen, sagt Dr. Williams.«
» Es
ist aber notwendig, sich aufzuregen!«, meinte Charlotte bissig.
»Siehst du nicht, dass es auch die ungerechten Umstände
sind, in denen wir Frauen leben, die zu solchen Dingen führen?
Selbst wenn man Terency und seine ekelhaften Freunde verurteilt,
fürchte ich, dass noch viele Frauen, seien sie aus niederem
Stande oder von adeliger Herkunft, in derlei ausweglose Situationen
geraten werden. Und das ist schrecklich, das versichere ich dir. Ich
habe es ja am eigenen Leibe erlebt. Sieh dir an, was mir widerfahren
ist und dabei habe ich noch Glück gehabt, dass ich Menschen
hatte, die für mich einstanden.« Ihr Blick wurde einen
Augenblick weich, als sie daran dachte, wie verzweifelt John versucht
hatte, sie aus ihrer Zwangslage zu retten. »Aber die meisten
haben das nicht. Und dann werden sie auch noch dafür gedemütigt.
Es ist nicht zu ertragen. Das Schicksal Emmys hat mich wirklich
empört.«
» Aber
was willst du dagegen tun? Das ist nun mal der Lauf der Dinge«,
gab ihre Freundin zu bedenken.
» Ich
werde das nicht akzeptieren. Dass ich überlebt habe, soll nicht
ohne Grund geschehen sein.« Charlotte merkte, wie ihr
schwindlig wurde. Die Erregung, die sie ergriffen hatte, blieb nicht
ohne Folgen. Ihre Freundin sah es und reagierte mit Sorge. »Du
legst dich jetzt besser wieder hin, Charlotte. Wir werden ein
andermal darüber sprechen. Heute wirst du die Welt nicht mehr
aus den Angeln heben. Komm hier, trinke etwas und dann schlafe dich
gesund. Morgen werden wir weitersehen.«
Charlotte
war dankbar für die Fürsorge und tat, wie ihr geheißen
wurde. Sie ergriff Marys Hand, als diese aufstehen wollte. »Ich
bin froh, eine Freundin wie dich zu haben«, sagte sie müde
und schloss die Augen.
» Und
ich schätze mich glücklich, dich meine Freundin nennen zu
dürfen.«, sagte diese, strich der Kranken über den
Kopf und verließ leise das Zimmer.
Kapitel
40
» Meinen
Sie, wir können ihr die Briefe jetzt geben, Dr. Williams? Ich
habe Sorge, dass sie einen Rückfall erleidet, immerhin ist auch
ein Brief von Lady Millford dabei.« Mary blickte den erfahrenen
Mediziner zweifelnd an.
» Ich
denke schon«, erwiderte der Arzt und schaute aus dem Fenster
nach seiner jungen Patientin, die auf einem Liegestuhl in der Sonne
ruhte. »Sie hat sich in den letzten Tagen gut erholt, nachdem
die Krisis überstanden war. Sie ist wirklich eine tapfere junge
Frau, der Captain hat nicht übertrieben.«
» Sie
hatten ihm geschrieben, dass es ihr besser geht?«
» Ja,
selbstverständlich! Als ich sicher sein konnte, dass die
Besserung von Dauer war. Ich denke, er hat wirklich ein Anrecht
darauf zu wissen wie es ihr geht. Nun kann ich es ihm ja nicht mehr
mitteilen, sein Schiff ist vorgestern ausgelaufen. Gott sei Dank
konnte ich ihm noch vor seiner Abreise Gutes berichten. Ich glaube,
der Mann hätte es nicht verkraftet, wenn sie gestorben wäre.
Gestern ist auch noch ein Brief per Eilboten von ihm eingetroffen. Er
liegt auf meinem Schreibtisch. Ich werde ihn holen. Vielleicht geben
Sie ihr diesen als Erstes zu lesen. Er wird sicher Angenehmes
enthalten.«
Dr.
Williams verließ das Zimmer und kehrte kurze Zeit später
mit dem versiegelten Brief zurück. »Ich überlasse es
Ihnen, ob Sie ihr gleich alle Briefe geben. Es ist ja nun doch ein
ganzer Stapel geworden und sie wird Zeit brauchen, um die
Neuigkeiten, die darin stehen, zu verkraften.«
Mary
nickte zustimmend, nahm das Bündel Briefe, legte das Schreiben
von Captain Battingfield obenauf und ging dann zu ihrer kranken
Freundin hinaus in
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