Pflicht und Verlangen
den herrlich erblühten Garten. Charlotte
wendete ihr das Gesicht zu, als sie sie herankommen hörte. Sie
sah jetzt schon wieder etwas besser aus. Obwohl noch immer recht
hohlwangig und abgemagert durch die lange unfreiwillige Fastenzeit,
hatte sie wenigstens wieder einen Hauch von Farbe auf den vor Kurzem
noch totenbleichen Wangen bekommen und auch die Augen wirkten
lebendiger als noch vor Kurzem. Über die rechte Schläfe
lief eine rötlich verfärbte Narbe, die Mary aber geschickt
mit dem langen, dunkelbraunen Haar der Freundin bedeckt hatte.
» Ist
es nicht schön hier?«, fragte Charlotte. »So
friedlich! Mrs Williams hat wirklich eine außerordentlich
glückliche Hand mit ihrem Garten.«
» In
der Tat«, sagte Mary und blickte sich ebenfalls um. Die Natur
war inzwischen in voller vorsommerlicher Pracht erblüht. Bienen
summten auf den prallen Blüten und die Vögel zwitscherten,
als bliebe ihnen nur ein einziger Tag. Genau der richtige Ort, um
gesund zu werden.
» Charlotte,
ich habe hier einige Briefe für dich. Die meisten sind
eingetroffen, während du im Fieber gelegen bist, aber wir haben
sie dir vorenthalten, weil du einfach zu krank warst. Ich hoffe, du
verstehst das. Aber nun meint Dr. Williams, du könntest dir eine
Rückkehr in die Welt zumuten, wenn auch vorsichtig. Du musst es
mir sagen, wenn es dich zu sehr ermüdet oder bedrückt.
Versprichst du mir das?«
Statt
zu antworten, reckte Charlotte neugierig den Kopf. »So viele?
Wer sollte mir denn alles schreiben?«
» Nun,
zum Beispiel Captain Battingfield«, meinte Mary mit einem
schelmischen Lächeln und hielt ihr den Brief hin.
» Von
John?«, fragte Charlotte erstaunt und brachte es fertig, trotz
ihrer noch immer vorhandenen Blässe zu erröten. Zögernd
ergriff sie das Schreiben, öffnete es dann aber hastig.
Portsmouth,
11. Mai 1818
Meine
liebste Charlotte,
endlich
erhalte ich Nachricht von Dr. Williams, dass es dir besser geht. Ich
kann dir nicht sagen, wie froh mich das macht. Ich war so sehr in
Sorge um dich, dass ich es kaum noch ertragen konnte. Mein armer
Engel, was hast du nur durchgemacht? Ich mag gar nicht daran denken.
Dennoch wagte ich es nicht, dir zu schreiben, in der Furcht, das
könnte dich noch zusätzlich belasten! Du hattest ja damals
im Garten von Rockbury Castle gesagt, ich solle nicht weiter in dich
dringen. Habe ich richtig gehandelt? Ich weiß es nicht!
Wie
dir Dr. Williams sicher mitgeteilt hat, habe ich wieder ein Kommando
übernommen. Heute in zwei Stunden werden wir auslaufen und ich
weiß noch nicht, wann ich zurückkehren werde. Es ist eine
Forschungsfahrt unter dem Kommando von Admiral Peary zur Erforschung
der Nord-West-Passage. Ein spannendes und lohnendes Unternehmen!
Sicher
wunderst du dich, dass ich wieder zur Marine zurückgekehrt bin,
aber ich sah keine andere Möglichkeit. Es ist so viel geschehen.
Diese Entscheidung traf ich, bevor die schlimmen Ereignisse, die dich
betroffen haben und von denen ich bei Gott wünschte, ich hätte
sie verhindern können, eintraten. Obwohl mich jetzt, da das
Schiff bald ausläuft, Zweifel packen, ob ich mich richtig
entschieden habe.
Sind
wir denn wirklich so gebunden an die Pflicht? Kann man von uns
fordern, dass wir so gegen das tiefste Verlangen unserer Seele
handeln? Und wie dieses Verlangen bei mir aussieht, weißt du,
meine Liebste. Sicher, du hast mir gesagt, dass ich dich gehen lassen
muss, aber ich vermag es nicht. Jetzt, da dir dies alles widerfahren
ist, umso weniger. Ich wünschte so sehr, ich hätte dich
davor bewahren können. Warum nur machen wir Menschen es uns so
schwer? Warum ist es so schwierig, den richtigen Weg zu finden? Wir
meinen, das Richtige zu tun und es geschieht das, was wir nicht
wollen oder sogar fürchten. Jedoch, wer weiß, wofür
es gut ist? Wir entscheiden uns auf dem Weg, ohne die Zukunft zu
kennen. Im Rückblick erscheint manches in anderem Lichte.
Dennoch
respektiere ich deinen Willen, wiewohl du mir zugestehen musst, dass
ich dich anflehe, es dir noch einmal zu überlegen. Nun tue ich
es doch und dränge dich. Verzeih mir! Ich werde zurückkehren,
das verspreche ich dir. Dann sollst du dich noch einmal entscheiden
können und ich werde akzeptieren, was immer du tun wirst.
Unbenommen
dessen habe ich für dich vorgesorgt. Du sollst dich nicht mehr
abhängig machen müssen von deiner Verwandten, von der ich
hoffe, dass sie für ihre Taten dereinst in der Hölle
schmoren wird. Ich kann ihr nicht verzeihen! Wie konnte sie
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