Pflicht und Verlangen
ihren gebrechlichen Onkel. Eine Ahnung beschlich sie,
dass ihm trotz seines eigentlich geringen Alters nicht mehr allzu
viel Zeit bleib. Die Krankheit zehrte an ihm und beraubte ihn seiner
Kraft, die ohnehin nie übermäßig gewesen sein mochte.
Beunruhigt blickte sie Lady Millford an und erschrak über die
ungeheure Härte und Verbitterung in deren Augen. Auch an Lady
Millford nagte etwas seit vielen Jahren und Charlotte glaubte zu
erkennen, um was es sich handelte. Lady Millford war eine Frau mit
hervorragenden Gaben in Führung und Planung. Als Mann hätte
sie vielleicht einen guten und erfolgreichen Militär abgegeben.
Seit Charlotte ins Haus gekommen war, musste sie die ständige
Klage ihres Gatten über den Verlust seiner so sanftmütigen
und schönen Schwester hinnehmen. Eine Kränkung, die ihr
gewiss nur zu deutlich machte, dass Sir Alistair sie zwar auf seine
Art schätzte, aber nicht liebte. Wenn er es all die Jahre auch
nicht ausgesprochen hatte, so hatte er es seine Frau wohl doch spüren
lassen, dass er seine Schwester ihr vorzog. So wie sie alle die
sanftmütige, schöne Elisa angehimmelt hatten. Die Gaben
dieser willensstarken Frau waren dabei zwar bemerkt, aber sie war
deshalb nicht geliebt worden und das hatte sie bitter und hart werden
lassen. Die Unfähigkeit, ihrem Mann die erwünschten Kinder
zu gebären, hatte ein Übriges getan und nun hatte ihr
kranker Mann sich zu allem Überfluss noch die Tochter dieser
Schwester ins Haus geholt, die den Platz besetzte, den Eleanor
Millford im Herzen ihres Mannes eigentlich beanspruchte.
Charlotte
holte noch einmal tief Luft. Sie fühlte ein neues Verständnis
für ihre spröde, abweisende Tante.
» Ich
werde mich beeilen, Tante. Bitte sorgen Sie sich nicht. Sie müssen
sich wirklich nicht sorgen! Ich werde Sie nicht enttäuschen«,
fügte sie bedeutsam an, in der Hoffnung, dass ihre Tante sie
verstand und die ausgestreckte Hand des Friedens ergreifen möge.
Vor
der Tür begann sie nach Arthur zu rufen, der auch sogleich mit
der angeforderten Medizin herbeieilte.
» Geht
es dem Herrn wieder schlecht? Ich mache mir Sorgen um ihn. Ich
fürchte, wir werden uns in nicht allzu langer Zeit von ihm
verabschieden müssen. Es ist ein Jammer! Er ist ein so guter
Herr!« Arthur schüttelte betrübt sein ergrautes Haupt
mit den sorgsam glattgelegten, dünn gewordenen Haaren. »Aber
Sie, Miss Brandon, werden ihm seine alten Tage noch vergolden, das
wissen Sie.«
» Arthur«,
entgegnete Charlotte mit ungewohnter Strenge, »ich habe den
Eindruck, dass meine Tante für ihren Mann die beste Hilfe und
Hingabe zeigt, die man sich wünschen kann.«
» Gewiss
doch, Miss Brandon«, beeilte sich Arthur zu erwidern und eilte
mit erstauntem Blick weiter.
Nachdenklich
machte sich Charlotte auf den Weg zurück in ihr Zimmer. Erst in
ungefähr einer Stunde würde man aufbrechen. Sie hoffte,
dass sich Sir Alistair bis dahin von seinem Anfall erholen konnte.
Plötzlich und zu ihrem eigenen Erstaunen bemerkte sie, dass es
sie mit einer gewissen Enttäuschung erfüllte, wenn sie der
Einladung wegen der Unpässlichkeit ihres Onkels nicht würden
Folge leisten können.
******
Pünktlich
um halb fünf saßen der Baronet und seine Gattin bereits in
der Kutsche, als Charlotte reisefertig vor das Haus trat und das
Gefährt bestieg. Sir Alistair schien es tatsächlich wieder
besser zu gehen, aber seine Lippen hatte eine ungesunde leicht
bläuliche Farbe, wie Charlotte besorgt registrierte.
Die
Fahrt nach Dullham Manor, die durch den Millford Forrest führte,
verlief ruhig und ohne Zwischenfälle. Sir Alistair war friedlich
schnarchend eingeschlafen und Charlotte genoss die herrliche
Landschaft. Immer wieder entdeckte sie das Meer zwischen den Hügeln.
Dorset war fruchtbar, lieblich und rau zugleich. Kein Wunder, dass
gerade dieser Landstrich im Laufe der englischen Geschichte immer
wieder Begehrlichkeiten ausgelöst hatte, wie ihr aus diversen
Geschichtsbüchern bekannt war. Als sie die Liegenschaften
Dullhams erreicht hatten, wurde Charlotte von Lady Millford darauf
aufmerksam gemacht. Es konnte nun nicht mehr sehr weit sein und
Charlotte versuchte neugierig, einen Blick auf das Battingfield’sche
Anwesen zu erhaschen. Die Kutsche umrundete einen letzten niedrigen
Hügel und dann öffnete sich ein weit ausladendes, flaches
Tal, in dem wie eine Perle eingebettet das Haus mit vielen
Nebengebäuden lag. Umrahmt von einer großen und gepflegten
Gartenanlage war Dullham Manor ein
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