Pflicht und Verlangen
denn nur
geschehen?«
» Nichts,
gar nichts, Miss Millford!« Mrs Sooner wischte sich noch einmal
über die Augen und wendete sich wieder ihrer Arbeit zu.
» Aber
Mrs Sooner, ein Blinder kann ja sehen, dass Sie ganz erschüttert
sind. Kommen Sie, lassen Sie doch die Arbeit liegen und setzen Sie
sich zu mir. Wollen Sie mir nicht erzählen, was Ihnen
widerfahren ist?«
Einige
Zeit sträubte sich die Köchin noch, aber dann ließ
sie sich doch zum Gesindetisch ziehen und nach mehrmaligem gutem
Zureden durch Charlotte begann sie, stockend zu berichten.
Es
sei nicht sie selbst, die das Unglück betroffen habe, obwohl sie
in gewisser Weise auch durch diese Sache in die größten
Nöte gekommen sei. Vielmehr sei ihrer Nichte Emmy gestern Abend
etwas zugestoßen.
» Um
Himmels willen, Mrs Sooner, was ist denn mit Emmy? Meine Tante hat
sie doch hoffentlich nicht wegen dieses kleinen Ungeschicks gestern
beim Servieren entlassen?«
Diese
Einlassung Charlottes führte zu einem neuen Tränenstrom,
der geraume Zeit zum Versiegen brauchte. Nein, darum handele es sich
Gott sei Dank noch nicht, begann die Köchin schließlich
stockend. Jedoch wenn die Sache ruchbar würde, wären Emmys
und auch ihre Tage auf Millford Hall wohl gezählt. Emmy sei ein
schlimmes Unglück widerfahren und sie, Mrs Sooner, könne es
einfach nicht berichten.
» Mrs
Sooner, bitte erzählen Sie mir jetzt sofort, was geschehen ist!«
Charlotte machte sich immer mehr Sorgen. Irgendetwas Schreckliches
musste vorgefallen sein, dass die erfahrene Bedienstete so völlig
die Fassung verloren hatte. »Was ist mit Emmy? Ist sie
verletzt? Sollen wir einen Arzt holen?«
Statt
zu antworten, schaute die Köchin Charlotte einen Augenblick
durchdringend an. Sie schien einen inneren Kampf mit sich
auszufechten. Doch dann stand sie kurz entschlossen auf, packte
Charlotte fast grob bei der Hand und führte sie in den
Gesindetrakt, wo sie in einen schmalen, tristen Gang einbogen. Links
und rechts gingen Türen ab, hinter denen sich enge, dunkle
Zimmer verbargen, die mit je zwei Betten und einem grob gezimmerten
Schrankregal möbliert waren. Es handelte sich um die Unterkunft
der Dienstmädchen. Bei der vierten Tür hielt Mrs Sooner an,
klopfte sehr vorsichtig und ließ dann Charlotte den Vortritt.
Auf dem schmalen Bett an der linken Zimmerwand lag Emmy mit weit
geöffneten Augen völlig teilnahmslos im Halbdunkel. Im
ersten Augenblick befürchtete Charlotte, sie sei tot, bemerkte
dann aber mit Erleichterung, dass die Brust des jungen Mädchens
sich regelmäßig hob und senkte. Doch als sie sich auf der
Bettkante niederließ und Emmys Hand ergriff, bemerkte sie, dass
das hübsche Gesicht des Mädchens deutlich sichtbare Spuren
von Gewaltanwendung aufwies. Emmy selbst zeigte durch keinerlei
Regung, dass sie überhaupt bemerkt hatte, dass jemand in den
Raum getreten war. Entsetzt wandte sich Charlotte zu Mrs Sooner um,
die mit erloschenem Blick gegen die geschlossene Tür gelehnt
dastand.
» Was
ist mit Emmy passiert, Mrs Sooner?«, fragte Charlotte nun mit
großer Bestimmtheit, mit der sie ihre innere Erschütterung
zu verbergen suchte. Obwohl sich ihr Verstand und ihr Empfinden
dagegen wehrten, dämmerte ihr die Antwort noch ehe Mrs Sooner
den Mund öffnete.
» Mr
Terency …«, die Stimme der Köchin war von einer
erstickten Spröde, »er traf gestern Abend offenbar auf die
arme Emmy. Vielleicht hat er auch nach ihr gesucht, ich weiß es
nicht. Arthur hatte sie nach ihrem Missgeschick im Salon angewiesen,
im Durchgang zum Ostflügel auf ihn zu warten, da er noch ein
ermahnendes Wort mit ihr sprechen wollte. Jedenfalls hat Mr Terency,
kaum dass er sie entdeckt hatte … er hat …«, Mrs
Sooner gelang es kaum auszusprechen, was Charlotte bereits wusste,
»er hat ihr Gewalt angetan. Dieser widerliche Mensch! Er hat
Emmy in eines der ungenutzten Zimmer gezerrt und ihr die Unschuld
genommen. Und als wäre das nicht schlimm genug, hat er sie auch
noch gequält und halb tot geschlagen dabei. Ich hätte es
wissen müssen! Ich habe doch gesehen, dass sie Angst vor ihm
hatte und habe sie doch nicht beschützt! Warum hat sie mir auch
nicht gesagt, dass er sich nach dem Ball schon an ihr vergreifen
wollte? Was soll nur aus uns werden? Wenn das Lady Millford zu Ohren
kommt, werden wir beide hinausgeworfen.« Mrs Sooner brach
wieder in Tränen aus.
Charlotte
fühlte, wie sich eine innere Taubheit in ihr breitmachte. Das
durfte nicht wahr sein! Wie konnte Terency sich an dem
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