Pflicht und Verlangen
als ich, die ich als Kind täglich davon hörte?
Jedoch habe ich schon damals mit meinem Vater manchen Disput darüber
geführt, dass auch die angeblich so heroische und edle
Geschichte der antiken Kultur nichts weiter ist als eine
ununterbrochene Abfolge blutiger Schlachten und Kriegshandlungen. Bei
genauerer Betrachtung offenbart es sich, dass im viel bewunderten,
humanistischen Hellas eigentlich nie Frieden herrschte, bis Alexander
der Große den Frieden mit Gewalt herbeiführte – und
wir alle wissen, wie dieser angebliche Frieden endete: in noch
schlimmerem Gemetzel. (26) Wer aber fragt nach den zahllosen Opfern,
die diese Grausamkeiten forderten, die letztlich nur der Gier der so
hochgelobten Stadtstaaten entsprangen? Genauso wenig wie heutzutage
danach gefragt wird, wo doch die Kriege durch die besseren Waffen nur noch
schrecklicher und zerstörerischer geworden sind …«
Charlotte brach ihre Ausführungen abrupt ab. In ihr waren die
Bilder der Typhusepidemie aufgestiegen, die auch ihre Eltern das
Leben gekostet hatte. So viele Menschen waren damals dahingerafft
worden und auch sie hatte viel, zu
viel Leid
mit angesehen. Sie atmete tief durch und beschloss, sich
erfreulicheren Themen zuzuwenden.
Sie
begann, mit lobenden Worten die Umgebung zu bewundern und brachte
ihren Begleiter dadurch wieder auf andere Gedanken, was ihm nicht
unwillkommen zu sein schien. Mit Hingabe erläuterte er ihr seine
landwirtschaftlichen Ziele und Neuerungen, die er mit seinen Pächtern
durchführte. Nach der schlechten Ernte durch den ungewöhnlich
kalten Sommer im Jahr 1816 (27) habe er sich, so erklärte er,
intensiv mit neuen Formen der Landwirtschaft beschäftigt und der
Verbesserung der Ernteerträge gewidmet. Er hoffe, dies mit einer
Änderung der Fruchtfolgen zu erreichen. Allerdings sei es ein
schweres Stück Arbeit, die Pächter davon zu überzeugen.
Wenn dadurch eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit
Nahrungsmitteln erreicht werden könne, habe er sein Ziel
erreicht und sich alle Mühe gelohnt. Charlotte konnte nicht
umhin, seinen Eifer und sein Geschick in der Führung des
Anwesens und der Ländereien zu bewundern. Er war offenbar ein
fürsorglicher Gutsherr, dem das Wohl der ihm anvertrauten
Menschen am Herzen lag. Einmal mehr sann sie darüber nach, wie
wenig die Eheleute Battingfield doch gemeinsam hatten. Während
Lady Battingfield das Landleben geradezu hasste und sich für
nichts weniger als ihre unmittelbare Umgebung interessierte, ging ihm
jede Oberflächlichkeit ab. Fast zu ernsthaft versuchte er, in
allen Bereichen zum Kern der Dinge vorzudringen. Ein Charakterzug,
der ihrem eigenen Wesen nicht ganz unähnlich war.
Während
er mit lebhafter Gestik erzählte, beobachtete sie ihn ausgiebig.
Sein wacher Blick und die sich beim Sprechen rötenden Wangen
verliehen seinem ohnehin anziehenden Gesicht zusätzlichen Reiz.
Charlotte ertappte sich dabei, dass sie ihm kurzfristig nicht mehr
zuhörte und sich stattdessen intensiv der Studie seines
einnehmenden Äußeren widmete, als er sie unvermutet
ansprach: »Und was sind Ihre Pläne, wenn Sie die Arbeit am
Nachlass Ihres Vaters abgeschlossen haben?«
» Wie?«
Charlotte schreckte aus ihren Betrachtungen auf.
Battingfield
lächelte. »Ich vermute, ich langweile Sie mit meinen
Ausführungen? Sie schienen mir gerade etwas abwesend.«
» Aber
nein, Captain! Gewiss nicht!«, beeilte sich Charlotte zu
widersprechen, musste dann aber widerstrebend zugeben, dass sie seine
letzte Frage nicht gehört hatte.
Er
lachte darüber ausgiebig und hakte sie dabei vertraulich unter,
was Charlotte in noch größere Verlegenheit brachte. So Arm
in Arm mit diesem interessanten Mann an ihrer Seite, der nicht der
ihre war, den schmalen Wiesenpfad entlangzugehen, machte sie
sichtlich nervös. Aber sie wagte es nicht, ihm den Arm zu
entziehen und er machte auch keine Anstalten, ihn loszulassen. So
wanderten sie eine Zeit lang schweigend zusammen den Wiesenpfad
entlang, der sie zum Fuß der Hügelkette brachte, auf deren
höchster Erhebung das Observatorium stand.
Der
Anstieg schien nicht besonders steil, aber Charlotte überlegte,
ob sie es unter diesen Umständen wagen durfte, sich wieder von
ihrem Begleiter zu lösen. Sie sollte es unbedingt tun, dachte
sie, verspürte aber im gleichen Augenblick ein vages Bedauern.
Sie genoss es, ihn so nah bei sich zu spüren. Er schien ihr so
vertraut, dabei aber auch fremd und erregend.
Das
gehört sich nicht, Charlotte! Sie ermahnte sich im
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