Pflugstein: Kriminalroman (German Edition)
und pointiert waren. Mit ihrem Schreibstil traf sie den
damaligen Nerv der Zeit. Natürlich spielte sie immer wieder mit dem Gedanken, ein
Buch zu schreiben. Doch spontane, deftige Schreibergüsse hatten ihrem sprunghaften
Wesen besser entsprochen als Texte, die Beharrlichkeit und Geduld erforderten.
Ob ihr Krimi
etwas hergibt oder einfach nur das Abfallprodukt einer schmerzhaften Auseinandersetzung
mit dem Tod ist, wird sich erst noch herausstellen müssen. Sie weiß, dass sie mit
der Tatsache leben muss, dass ihr persönliches Gefühl diametral dem Empfinden der
Leser entgegengesetzt sein kann.
Sie schaltet ihren Laptop ein und
widmet sich ihrem Manuskript. Jetzt geht es nur noch um Kosmetik.
Als sich ihr Handy zunehmend lauter
meldet, steckt sie mitten in der Arbeit. Wo, zum Teufel, hat sie es hingelegt?
Es ist Valentin,
der sie am Abend zum Essen einladen will. Sie vereinbaren ein Treffen beim Bahnhofkiosk
Stadelhofen.
Die alles
verschlingende Macht der Liebe, denkt sie aufgeregt. Hoffentlich erschaffe ich mir
aus Liebessehnsucht nicht einen Mann, den es letztlich so gar nicht gibt.
Sie widmet
sich erneut ihrem Manuskript.
Zwei Stunden später ertönt ihr Handy
erneut. Diesmal ist es Sascha, ein stadtbekannter Comiczeichner und ehemaliger Freund
ihres verstorbenen Mannes.
»Ich muss
unbedingt mit dir sprechen«, prescht er los. »Hättest du heute Abend Zeit? Wir könnten
irgendwo im Seefeld zusammen essen.«
»Tut mir
leid«, unterbricht sie seinen Wortschwall, »ich bin schon verabredet.«
»Viktoria,
bitte, es ist wichtig. Ich bin total am Anschlag.«
»Lass mich
sehen. Ich bin erst um acht verabredet. Wir könnten uns vorher treffen, wenn es
wirklich so dringend ist«, schlägt sie vor. Sie begibt sich in die Wohnküche und
sieht nach der Uhrzeit. »Ich könnte um sechs bei dir sein.«
28
Die S16 fährt in den Bahnhof Stadelhofen
ein.
Viktoria
findet, dass der Bahnhof sich sehen lassen kann. Der spanische Architekt Santiago
Calatrava hat auf gekonnte Weise das weiße, spätklassizistische Bahnhofsgebäude
in die aus Beton und Stahl konstruierte Perronüberdachung integriert, bei der ihm
sage und schreibe die Rippen eines Stiers Vorbild waren.
Doch dabei
muss Calatrava wohl den Klangraum seines Meisterstücks vergessen haben. Denn das
durch die enge Kurveneinfahrt in den Bahnhof bedingte metallische Quietschen der
ankommenden und abfahrenden Züge lenkt beträchtlich vom erfreulichen Anblick ab.
Zum Leidwesen von Anwohnern und Passanten lässt sich dieses Malheur aber trotz der
speziellen Gleisschmieranlage nicht beheben.
Würde ihm
dieser Makel nicht anhaften, da ist Viktoria überzeugt, wäre er bei Weitem der eleganteste
und schönste der dreizehn Zürcher Bahnhöfe.
Wie jeden Feierabend ist hier die
Hölle los.
Beim Aussteigen
aus dem Zug stößt sie mit einem alten Mann zusammen, der, auf einen Stock gestützt,
heftig ins Wanken kommt. Sofort greift sie hilfsbereit nach seinem Arm, bis er sein
Gleichgewicht wieder gefunden hat.
Der alte
Mann lässt eine Fluchtirade vom Stapel.
»Tut mir
leid«, entschuldigt sie sich mit einem sauren Lächeln.
»Blöde Kuh,
können Sie nicht aufpassen?«, bellt er.
»Wenn Sie
mit Einsteigen gewartet hätten, wären wir nicht zusammengestoßen«, gibt sie prompt
zurück.
Der alte
Mann verwirft fluchend seine Arme und trottet von dannen.
Entnervt
bahnt sie sich einen Weg durch das Gedränge.
Als sie
es endlich geschafft hat, beginnt es in Strömen zu regnen. Sie eilt die letzten
paar Meter bis zur Tramhaltestelle. Kaum ist sie dort, kommt ein Tram in Sicht,
und wenig später gondelt sie durch die Seefeldstrasse.
In diesem
Quartier gibt es eine Vielfalt an interessanten Boutiquen und Restaurants. Ganz
in der Nähe liegt auch die vielbegangene Seepromenade Utoquai . Sobald es
Sommer wird, verwandelt sich diese Parkanlage in eine riesige Vergnügungslandschaft,
wo gespielt, gegrillt und gebadet wird. Und wer gesehen werden will, der begibt
sich in die Badi Utoquai , ein historisches Holzbad und eines der trendigsten
Seebäder, das sich dafür rühmt, jedem sein Lieblingsplätzchen zu garantieren.
Hier wird
der Charme von Zürich sichtbar.
Bei der
Haltestelle Fröhlichstrasse steigt Viktoria aus. Bis zu Saschas Jugendstilwohnung
sind es nur noch ein paar Schritte. Am Ziel angelangt, nimmt sie forsch die Treppe
in Angriff, obwohl es im Haus einen Lift gibt. Das morgendliche Abstrampeln auf
dem Hometrainer und die regelmäßigen
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