Pflugstein: Kriminalroman (German Edition)
egal«, gibt sie zurück. Sie betrachtet ihn mitfühlend. Er macht
seinem Namen Engel alle Ehre. Große blaue Augen, dichtbewimpert; schulterlange Zapfenlocken,
ätherisch, schön. Mit Grübchen in den Wangen und Lachfältchen um die Augenwinkel.
Die sinnlich geschwungenen Lippen eingerahmt von tiefen Wangenfurchen. Ein Gesicht,
das man auf Anhieb anziehend findet.
Sascha lässt
sich ermattet aufs Sofa nieder.
»Jemanden
so plötzlich zu verlieren, ist eine schlimme Sache«, merkt sie mitfühlend an.
»Ich weiß
nicht, ob ich ohne Joe weiterleben kann. Er nahm in meinem Leben so viel Raum ein.«
»Mir ging
es genauso, als Lucien starb«, versucht sie ihn zu trösten.
»Warum gönnt
einem das Leben das Glück nicht? Ich habe das Gefühl, nie mehr arbeiten zu können,
und ohne meine Arbeit bin ich verloren.«
»Kann ich
gut verstehen. Ich befürchte, dass die nächste Zeit für dich tatsächlich nicht einfach
werden wird. – Hat die Polizei dich schon vernommen?«
»Nein, warum
sollte sie? Ich kann mir Joes Tod ja selbst nicht erklären.«
»Bis wann
war er am Sonntagabend bei dir?«
»Er kam
direkt nach der Arbeit. Leider hatte er nicht viel Zeit. Kurz vor acht ist er wieder
gegangen.«
»Was machte
Joe beruflich?«
»Er war
Investment-Banker in einer Privatbank. Er war dort eine große Nummer.«
30
Möller bestellt die Vierundvierzig
und die Achtzig, ohne die Speisekarte zu konsultieren. Dazu weißen Reis und ein
kaltes Bier. Viktorias erstaunter Blick bringt ihn zum Schmunzeln. Er wartet, bis
sie ihr Beef Szechuan , Reis und eine Kanne Jasmin-Tee bestellt hat.
»Schön,
dich zu sehen«, leitet er das Gespräch ein und schaut ihr dabei tief in die Augen.
»Ganz meinerseits.
Allerdings wäre mir ein etwas gemütlicheres Restaurant lieber gewesen«, bemerkt
sie lächelnd.
»Tut mir
leid. Wir werden das nachholen. Versprochen.«
»Bitte,
keine Versprechen«, gibt sie zurück. »Kommst du oft hierher zum Essen?«
»Hin und
wieder. Ich mag die leichte Wok-Küche. Außerdem ist das Lokal immer geöffnet, und
ich brauche nie lange zu warten.«
»Wie ich
sehe, stehst du schon wieder unter Arbeitsdruck.«
»Wie man’s
nimmt«, erwidert er ausweichend.« Sein Blick streift über ihre wachen Augen, die
vollen Lippen, ihren schön geschwungenen Nacken und bleibt an ihrem Dekolleté hängen,
das den Ansatz ihrer großen Brüste enthüllt. Nicht zum ersten Mal kommt es ihm so
vor, als habe sich die Sinnlichkeit sämtlicher Frauen in ihr vereint. Er sieht,
wie auch sie ihn mustert und dabei verlegen mit einer Haarsträhne spielt. Vorsichtig
berührt er ihre Hand. »Ich wollte dich am Flughafen abholen, aber kaum war ich zu
Hause, überrollte mich die Arbeit.«
Sie mustert
ihn stirnrunzelnd. »Ich verabscheue Ausreden.«
»Ich weiß«,
bekennt er schuldbewusst.
Die chinesische
Bedienung bringt die Getränke und die Plattenwärmer.
Er ringt
nach Worten. Jetzt, wo Viktoria vor ihm sitzt und ihn erwartungsvoll mustert, weiß
er plötzlich nicht mehr, was er sagen soll. Er hat sich diese paar Stunden freigekämpft.
Auf Knopfdruck abschalten kann er aber nicht. Am liebsten würde er sie einfach nur
ansehen, ihren weiblichen Duft einatmen und dabei das Essen genießen.
»In chinesischen
Ländern ist es Brauch, dass man alle Gerichte miteinander teilt«, löst sie die Stille
auf, als das Essen aufgetragen wird.
»Gute Idee.«
Fasziniert beobachtet er, wie sie sich geschickt der Essstäbchen bedient, die Reisschale
in die linke Hand nimmt und die Nahrung dem Mund zuführt. Da es ihm nach etlichen
Versuchen immer noch nicht gelingt, die Ententranchen auf den Teller zu hieven,
greift er nach der Gabel. – Wieder begegnen sich ihre Blicke. Er kann ihre Augenfarbe
nicht ausmachen, weil sie sich ständig ändert. Mal ist sie braun, mal grün und dann
wieder eine Mischung davon.
»Ein neuer
Fall?«, fragt sie ihn nach einer Weile des Schweigens.
Er beantwortet
ihre Frage mit einem Nicken.
»Doch nicht
etwa der Pflugstein-Tote in Herrliberg?«
Er lässt
sich nicht anmerken, dass ihre Frage ihn überrascht. Schließlich stand es in der
Zeitung. »Ja, ich muss nach dem Essen leider nochmals zurück ins Büro.« Er macht
mit der Hand eine entschuldigende Geste. Wie gerne würde er sie bei der Hand nehmen
und einfach abhauen. In Momenten wie diesen hasst er seinen Job. Hinzu kommt, dass
er in letzter Zeit vermehrt das Bedürfnis nach einer längeren Auszeit verspürte.
»Ich weiß,
ich weiß«, hört er sie sagen,
Weitere Kostenlose Bücher