Pflugstein: Kriminalroman (German Edition)
Waldspaziergänge zeigen Wirkung.
29
Sascha Engel bittet Viktoria herein,
doch das Lächeln reicht nicht bis zu seinen Augen. Noch nie hat sie den groß gewachsenen,
grazilen Mann so ungepflegt gesehen. Er bietet ihr Kaffee an und verschwindet in
der Küche.
Sascha war der beste Freund ihres
verstorbenen Mannes, obwohl sie beide grundverschieden waren. Lucien pragmatisch
und besonnen, Sascha eine Frohnatur, emotional und verträumt. Die beiden Männer
spiegelten einander jene Charaktereigenschaften, die sie selber nicht zum Ausdruck
bringen konnten. In den frühen Jahren ihrer Bekanntschaft, als Sascha sein Geld
noch mit Gelegenheitsjobs verdiente, war Lucien sein Mäzen gewesen. Er wurde nie
müde, ihn zum Zeichnen zu ermutigen. Lucien wusste, dass er das Zeug zu einem großen
Künstler hatte. Und als Lucien starb, war Sascha einer der wenigen Menschen, mit
dem sie ihre Trauer teilen konnte. Doch in den letzten Jahren ist sie ihm nur noch
an seinen gelegentlichen Buchtaufen begegnet.
Sie sieht
sein Appartement im Seefeld zum ersten Mal. Hohe Räume mit Stuckdecken, die ein
angenehmes Raumgefühl vermitteln. Fischgrätparkett, das den Charme und Charakter
der Wohnung noch unterstreicht. Die modernen Designermöbel bilden einen angenehmen
Kontrast zur alten, historisch anmutenden Architektur. Die Flügeltüre im Wohnzimmer,
durch die man ins Esszimmer gelangt, und das Cheminée erinnern sie an ihre Jugendstilwohnung,
die sie viele Jahre lang mit Lucien bewohnt hat.
Wie durch
ein Zeitfenster sieht sie sich in ihrem gemütlichen, mit Büchern vollgestopften
Arbeitszimmer sitzen und an ihren Artikeln und Glossen arbeiten. Sie sieht die Abendsonne
vor sich, welche die Wohnung in bernsteinfarbenes Licht taucht und Lucien, der ihr
einen Espresso bringt. Sie sieht sich im Morgenmantel mit einer Tasse Kaffee auf
dem Balkon stehen und zusammen mit Lucien die Morgensonne genießen.
Sie kann
nicht verstehen, warum es immer noch so weh tut.
»Danke, dass du gekommen bist, Viki«,
reißt Sascha sie aus den Gedanken.
Sie nimmt
das Espressotässchen entgegen und setzt sich aufs Sofa. »Was in aller Welt ist geschehen?«
Er lässt
sich neben ihr nieder. »Ich weiß nicht, womit ich beginnen soll.«
Sie wartet
geduldig.
Er vergräbt
sein Gesicht in den Händen. Jede Kraft scheint aus ihm zu entweichen.
Sie legt
ihre Hand auf seinen gebeugten Rücken.
Er richtet
sich abrupt auf und sucht nach Worten. »Mein Freund ist tot«, sagt er schließlich.
»Hans?«
Sie sieht ihn erschrocken an.
»Nein, mit
Hans bin ich schon lange nicht mehr zusammen. Ich bringe es einfach nicht auf die
Reihe. Wir haben uns am Sonntagabend noch gesehen.«
»Wer – wir?«
»Joe und
ich.«
Sofort weiß
sie von wem er spricht. »Wo habt ihr euch zum letzten Mal gesehen?«, fragt sie nach.
»Hier in
meiner Wohnung. Gestern habe ich den ganzen Tag vergebens versucht, Joe auf dem
Handy zu erreichen. Und als ich dann heute im Tagi gelesen habe, dass in
Herrliberg ein Mann tot aufgefunden wurde, hatte ich sofort ein ungutes Gefühl.
– Hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja, sicher«,
wappnet sie sich mit einem tiefen Atemzug.
»Also habe
ich all meinen Mut zusammengenommen und seine Frau angerufen«, fährt er fort. »Sie
hat mir bestätigt, dass es sich beim Toten tatsächlich um Joe handelt.«
»Das tut
mir leid. Ich habe in der Zeitung darüber gelesen. Aber ich verstehe nicht ganz
… War dieser Joe nicht verheiratet?«
»Ja, und?«
»Waren für
dich früher verheiratete Männer nicht tabu?«
»Gegen die
Liebe ist man machtlos.« Er steht abrupt auf, schreitet zum Fenster und öffnet es.
Im selben Moment quietscht ein Tram.
»Unmögliche
Lieben sind oft die intensivsten«, gibt sie zu bedenken.
»Sie war
intensiv, aber nicht unmöglich«, korrigiert er sie aufgebracht. Nach einer Weile
fährt er fort: »Joe war meine große Liebe.«
»Ich erinnere
mich, dass jeder deiner Liebhaber zu Beginn deine große Liebe war«, kontert sie.
»Die große
Liebe erkennt man erst, wenn man ihr begegnet«, unterbricht er sie heftig. »Und
jetzt ist Joe tot. Ich kann es einfach nicht fassen.«
»Aber Joe
war doch nicht homosexuell, oder?«
»Es gibt
viele Männer, die erst in späteren Jahren zu ihrer wahren sexuellen Ausrichtung
stehen.«
»Wo habt
ihr euch kennengelernt?«, forscht sie weiter.
»Bei meiner
letzten Buchtaufe.« Wütend kickt er mit seinem Fuß gegen die Wand. »Wir hatten so
viele Pläne.«
»Dem Tod
sind unsere Pläne
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