Pforten der Hoelle
wodurch von unten der Eindruck entstand, das Kloster würde aus dem Felsen hervorwachsen.
Hier und da flackerten Feuer zwischen den verschiedenen Gebäuden innerhalb der Außenmauer. Und in ihrem Licht sah Dash Roon schattenhafte Gestalten über den Hof hin und her eilen.
Er holte das Diktiergerät aus der Tasche seiner Wetterjacke und drückte die Aufnahmetaste.
»Ich bin am Ziel«, flüsterte er in das winzige eingebaute Mikrofon. »Das Kloster liegt mir quasi zu Füßen. Und obwohl ich gerade den ersten Blick darauf werfe, bin ich sicher, daß ich in den Jungs da un-ten keine normalen Betbrüder vor mir habe. Brave Mönche sollten um diese nachtschlafene Zeit längst in ihren Betten liegen. Da unten allerdings -«
Er zögerte kurz, bevor er grinsend weitersprach: »- scheint die Hölle los zu sein!«
*
Sehr viel schlimmer konnte auch das Gefühl nicht sein, an einem mittelalterlichen Pranger zu stehen, dachte April Dorn. Obgleich man ihr weder Leid zufügte noch sonst etwas antat, kam sie sich gedemütigt vor.
Die beiden Männer hatten sie durch endlose Tunnel und Korridore geführt. Als sie endlich diesen großen Saal betreten hatten, der - obwohl sie über etliche Treppen nach oben gestiegen waren - ohne Zweifel unterirdisch gelegen war, hatte die eigenartige Taubheit in April schon merklich nachgelassen. Ihr Wille zum Widerstand indes blieb gebrochen.
Nun stand sie inmitten des Saales, dessen Wände in Dunkelheit verschwanden. Licht fiel aus einer versteckten Quelle nur auf die Stelle, an der sich April befand. Was jenseits dieser Insel aus Helligkeit lag, blieb für das Mädchen unsichtbar.
Dennoch wußte sie, daß sie nicht allein war. Sie spürte die Nähe weiterer Personen, fühlte sich von ihren Blicken berührt und konnte ihr Atmen hören.
Eine ganze Weile geschah nichts. Man taxierte sie nur, wartete vielleicht darauf, daß sie etwas sagte. Aber den Gefallen wollte sie den Unsichtbaren nicht tun.
Doch deren Geduld erwies sich letztlich als strapazierfähiger als ihre eigene.
»Was wollen Sie?« entfuhr es April endlich, ein schluchzender Aufschrei.
»Wer bist du?« kam es aus den Schatten zurück. Eine Männerstimme.
»Das wissen Sie doch längst«, erwiderte das Mädchen. »Sonst hätten Sie mich nicht entführen lassen. Aber wenn Sie glauben, Sie könnten Lösegeld erpressen, dann irren Sie sich. Es gibt niemanden, der .«
»Das wissen wir. Und es tut uns sehr leid um deine Eltern.«
Es lag keine Häme in den Worten, sie klangen ehrlich. Und trotzdem empfand April sie als zutiefst beunruhigend.
»Was habt ihr mit meiner Schwester gemacht? Wo ist May?« stellte April die nächste Frage.
»Sie ist - nun, sagen wir, gut aufgehoben.«
»Was soll das heißen?«
»Alles zu seiner Zeit«, wurde ihr von neuem gesagt. »Zuerst möchten wir, daß du uns einige Fragen beantwortest.«
»Was für Fragen?«
April erfuhr es. Doch die wenigsten Fragen wurden ihr laut gestellt, und jene, die sie zu hören bekam, waren im Grunde banal und offenbar unwichtig. April beantwortete sie trotzdem, verriet ihren Namen, woher sie kam und dergleichen mehr.
Antworten holten sich die Unsichtbaren jedoch auch auf Fragen, die sie gar nicht gestellt hatten. Sie »pflückten« sie auf unvorstellbare Weise direkt aus April heraus!
Das Mädchen spürte ein nicht einmal schmerzhaftes, aber doch unangenehmes Ziepen zwischen ihren Schläfen, wieder und wieder. Und mit jedem einzelnen kleinen Reißen tauchte ein Gedankenbild auf, als würde ein entsprechendes Foto aus einer Kartei gezogen.
So erlebte April in allen Einzelheiten noch einmal die grausige Mordnacht auf der Farm ihrer Eltern nach, machte ein zweites Mal die gemeinsame Flucht mit May durch, sah erneut die Stationen ihres Weges von Kansas nach New York - und damit auch alles, was sich währenddessen ereignet hatte, weil May ihre unheimliche Kraft immer wahlloser eingesetzt hatte.
»Nein, bitte nicht«, wimmerte April endlich. »Aufhören, bitte ...«
Sie sank in die Knie, schluchzend, weinend, sah dann aber doch auf und in die Schatten ringsum, mit tränenverschleiertem Blick und trotzdem fast dankbar, weil man ihren Wunsch erfüllte. Wie die anderen es auch angestellt haben mochten, sie hörten auf, Aprils Erinnerung zu durchforsten. Wohl weniger aus Mitleid als vielmehr, weil es nichts mehr gab, was sie ihr noch hätten entlocken können.
»Bringt die andere herbei!« befahl der Mann, der anfangs mit April gesprochen hatte.
Schritte entfernten sich.
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