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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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stand eine Menge auf dem Spiel und sie zwangen uns, immer größere Risiken einzugehen. Esteban musste die Probanden über Monate in ihrem Zustand belassen. Vorher waren ihnen immer wieder Ruhepausen gegönnt worden, Phasen, in denen sie ins Leben zurückkehren durften. Aber nun wurde er gedrängt, sie dauerhaft an der Schwelle zum Tod festzuhalten. Niemand hat darunter mehr gelitten als er.«
    Ich fürchtete, Tyler könnte jeden Augenblick erneut der Geduldsfaden reißen. Sicherheitshalber schob ich mich zwischen ihn und die Frau.
    »Vier von ihnen wurden bald unbrauchbar«, sagte sie.
    Tyler atmete tief durch. »Sie sind gestorben?«
    »Wir mussten sie aus der Versuchskette nehmen. Das war der Anfang vom Ende. An einem Abend im Herbst tauchte eine Abordnung unserer Geldgeber auf und zwang uns, ihnen die Probanden zu übergeben. Wir konnten sie überzeugen, dass vier von ihnen Estebans Einfluss entglitten waren und keinen Nutzen mehr hatten, und so nahmen sie schließlich nur die acht anderen mit, ebenso wie die Krankenschwester, zu der sie gesprochen hatten. Sie überließen uns die vier defizitären Probanden unter der Voraussetzung, dass wir sie über mögliche Fortschritte auf dem Laufenden halten würden. Aber zugleich drehten sie uns den Geldhahn zu und uns blieb keine Wahl, als auf unser privates Vermögen zurückzugreifen. Esteban war wohlhabend gewesen, bevor wir uns kennengelernt hatten, seine Auftritte hatten ihn zu einem reichen Mann gemacht. Eine Weile konnten wir also durchhalten. Aber als er vor einem Jahr starb, oben im Varieté, da standen wir kurz davor, das Haus verkaufen zu müssen. Daraufhin stoppte ich alle Arbeiten in der Hot Suite und beendete das Experiment ein für alle Mal.«
    »Wohin sind die acht gebracht worden?«, fragte ich.
    »Ich weiß es nicht. Man hatte wohl schon eine Weile zuvor damit begonnen, in den USA eine zweite Forschungseinrichtung aufzubauen. Ich weiß nicht, was dort mit ihnen geschehen ist.«
    »War Flavie Certier eine von ihnen?«, presste Tyler hervor. »Oder ist sie –«
    »Ich habe ihre Namen nie erfahren. Sie kamen anonym zu uns, ohne Papiere, ohne irgendetwas. Ich hätte sie anhand der Passagierliste und durch die Teilnehmerkartei der Konferenz identifizieren können, aber mir war es lieber, so wenig wie möglich über sie zu wissen. Offiziell erhielten sie Nummern, aber wir haben ihnen bald eigene Namen gegeben. So etwas tut man, wenn man lange mit unbekannten Patienten zu tun hat, die in einer Art Koma liegen. Man sorgt sich um sie … und man gibt ihnen Namen.«
    Tyler zog den Revolver und setzte die Mündung auf die Stirn der alten Frau.
    Emma trat neben sie und versuchte, seinen Blick auf sich zu lenken. »Das ist es doch, was sie will. Sie provoziert dich, Tyler. Sie will sterben. Und du sollst ihr dabei helfen.«
    Manchmal war die Vernunft meiner Schwester schwer zu ertragen, und dennoch hatte sie Recht. Teresa Salazar war unmerklich dazu übergegangen, unsere Gefühle zu manipulieren. Nur Emma war gegen Emotionen immun.
    Tyler ließ die Waffe, wo sie war, und griff mit der linken Hand in seine Lederjacke. Er zog eine Fotografie hervor und hielt sie der Wissenschaftlerin vors Gesicht. »Das ist sie!«
    Die alte Frau wandte den Blick ab.
    »Sehen Sie gefälligst hin!«
    »Tyler«, sagte ich beschwichtigend, »wenn die Männer vor dem Haus das hören …«
    Er reagierte nicht.
    Ich trat vor ihn, packte den Revolver und riss ihm die Waffe aus der Hand. »Es reicht jetzt! Wenn du schießt, werden die in ein paar Sekunden hier sein. Das lasse ich nicht zu!«
    Einen Moment lang sah es aus, als würde sich seine Wut gegen mich richten. Doch dann wandte er sich wieder der Frau zu. »Erkennen Sie sie?«
    Ich ging hinüber in den Erker. Ein Nest aus Lichtern glühte draußen in der Schwärze. Das hell erleuchtete Solarfeld war von Finsternis umgeben wie eine Raumstation auf dem Mond, der äußere Rand keinen Kilometer vom Haus entfernt.
    Auf einer Kommode unter dem Fenster stand ein Telefon, rot und mit Wählscheibe wie das im Erdgeschoss. Ich hob den Hörer ab und lauschte. Nichts. Auch als ich die Null wählte, blieb die Leitung tot.
    »Wir haben hier draußen Überlandleitungen«, sagte Teresa Salazar. »Haven hat sie gekappt. Das Handynetz funktioniert schon seit gestern Mittag nicht mehr. Ich nehme an, da draußen bricht allmählich alles zusammen –«
    »Flavie«, fiel Tyler ihr ins Wort. »Flavie Certier.«
    Nun blickte sie doch auf das Foto und

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