Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer

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hat Recht«, sagte Jacobs. »Was hatten die alle am Ufer zu suchen?«
    »Sie sind weggelaufen«, sagte ich. Es war nur eine Vermutung, aber mir kam sie schlüssig vor. »Wahrscheinlich ging es auf den Straßen weder vor noch zurück. Da sind sie zu Fuß weiter, rauf nach Norden, und haben sich am Fluss orientiert. Das macht man so, oder?«
    »Ja«, erwiderte Jacobs mit fahlem Lächeln, »bei den Pfadfindern.«
    »Diese Leute waren keine Soldaten!«, fuhr ich ihn an. »Das waren ganz normale Menschen, Familien mit Kindern, alte Leute … Menschen, die alle eine Heidenangst hatten.«
    Peterson zog zwei Spritzen auf. Die Kanülen sicherte er mit Plastikkappen. Nach einem Seitenblick zu den zuckenden Probanden legte er sie obenauf in den offenen Tornister.
    Die Gegend rechts und links des Flusses war jetzt dichter bebaut. Gewaltige Industrieanlagen schälten sich aus der Dunkelheit. Der weiße Schein des Totenlichts leuchtete zwischen den Fabrikhallen empor, und bald waren die Geister überall.
    »Das sind zu viele«, sagte Havens Lautsprecherstimme.
    Solange wir in der Mitte des Flusses blieben, bedeuteten die Smilewaves keine unmittelbare Gefahr. Das würde sich erst ändern, wenn wir die Stadt erreichten.
    »Zu viele«, wiederholte Emma nachdenklich. Nur ich konnte sie hören, weil ich unmittelbar hinter dem Platz des Kopiloten saß. Dann sagte sie lauter: »Zwei Jahre würden keinen solchen Unterschied machen.«
    »Wovon redet sie da?«, fragte Jacobs, obwohl er es ebenso wissen musste wie der Rest von uns.
    »Es geht schneller«, sagte Peterson. »Während wir da oben waren, ist irgendwas geschehen, das es beschleunigt hat. Vielleicht ist das eine ganz natürliche Entwicklung für das da draußen … wer weiß. Wie in der Geschichte von den Reiskörnern auf dem Schachbrett. Es werden immer schneller immer mehr.«
    Wieder knisterte es in den Lautsprechern. »Vielleicht gelten die Gesetzmäßigkeiten nicht mehr, an die wir bisher geglaubt haben.« Tyler! Ich war heilfroh, seine Stimme zu hören. Sie klang leiser als die von Haven, weiter weg – aber es war unzweifelhaft seine. »Hey, Emma«, sagte er, »ich schätze, du hast Recht.«
    Ich musste lächeln, als sie sich ein wenig aufsetzte, so als nähme sie Haltung an.
    Was, wenn nicht nur die Erscheinungen aus zwei Jahren dazugekommen waren, sondern aus vier oder sechs? Dann hatte sich ihre Zahl über Nacht verdoppelt . Dann standen dort draußen nicht mehr hundertfünfundsechzig, sondern weit über dreihundert Millionen Geister.
    Die Hubschrauber folgten einer weiteren Flussbiegung. Der Himmel wurde heller, als wäre dort vorne bereits der Tag angebrochen. Nur dass dies nicht der rotgoldene Schein eines Sonnenaufgangs war, sondern das Neonweiß des New Yorker Totenlichts.
    Schließlich tauchten die ersten Hochhäuser auf, endlose Kolonnen von Wohnblocks, ehe am linken Ufer die berühmte Skyline Manhattans in unser Sichtfeld rückte. Boote und Schiffe trieben davor auf dem Wasser und hielten sich vom Ufer fern, während ihre Besatzungen auf ein Wunder warteten.
    Es gab zahllose erleuchtete Fenster, im Zentrum wie auch in New Jersey auf der anderen Seite des Hudson, obwohl laut Lieutenant Keene schon vor Stunden die Stromversorgung ausgefallen war. Heerscharen von Geistern erhellten die Wohnungen und Büros der Stadt.
    »Großer Gott!«, entfuhr es Peterson, aber es ging in einem fassungslosen Aufstöhnen aller unter, als etwas in unser Sichtfeld rückte, mit dem niemand gerechnet hatte.
    Jenseits der Hafenanlagen schälten sich immer neue Hochhäuser aus dem fahlen Lichtersmog der Stadt. Aber es waren nicht die Bauten aus Stein und Stahl und Glas, denen auf einen Schlag unsere ganze Aufmerksamkeit galt.
    Es waren zwei Gebäude, die schon seit Jahren nicht mehr existierten. Zwei Gebäude, die jahrzehntelang Manhattans Downtown am unteren Ende der Halbinsel überragt hatten und innerhalb eines einzigen Tages ausgelöscht worden waren.
    Nun waren sie wiederauferstanden, ein makaberes Mahnmal über dem blassen Kadaver der Stadt. Zwei Türme aus Licht, hoch und schlank und strahlend weiß, zusammengesetzt aus Tausenden Lichtpunkten, die aus der Ferne zu riesenhaften Säulen verschmolzen.
    Die Geister des World Trade Center waren zurückgekehrt.

37.
    »Nine-Eleven liegt weit über ein Jahrzehnt zurück!«, brüllte Jacobs. »Das darf nicht –«
    Der Rest seiner Worte ging in Lärm und Geschrei unter, als sich die Probanden im hinteren Teil des Helikopters ruckartig