Phantom der Lüste
Erlösung.
Erschöpft ließ er sich nach hinten fallen und der Fremde fing ihn auf. Beugte sich über ihn, sodass er endlich sein Gesicht erkennen konnte.
Enjolras.
Oh wäre dies doch nur echt. Aber aus Jean und Enjolras wurden wieder Holzfiguren, Teile eines Bildes, das er nur mit seinen Fingern erkennen konnte. Wahrscheinlich war das auch besser so. Die Dunkelheit kehrte zurück, die Farben erloschen. Dennoch war er nicht schwermütig. Nicht jetzt. Nicht nach diesem Tagtraum. Ganz bewusst hielt er das Bild überseine Beine, damit sein Gastgeber seine Erektion nicht bemerkte.
„Es ist wunderschön“, sagte Jean andächtig.
„Danke. Ich habe viel mit Holz gearbeitet in den letzten Jahren.“
„Du hast das hergestellt?“ Jean war sprachlos.
„Ich hatte nicht viel zu tun.“
„Das ist fantastisch. Damit könntest du berühmt werden. Ich habe nie etwas Vergleichbares gesehen … gespürt.“
Enjolras nahm ihm das Kunstwerk ab. „Ich stehe nicht gern in der Öffentlichkeit. Um genauer zu sein ist es mir ein Gräuel. Ich würde den Wirbel um meine Person nicht ertragen.“
Unauffällig legte Jean seine Hände vor seinen Unterleib. Er fand das schade. Er liebte die Kunst. Und Enjolras war zweifelsohne ein begnadeter Künstler. Nein, so schnell würde er nicht aufgeben. Vielleicht konnte er seinen Retter noch überzeugen, seine Werke zu verkaufen oder irgendwo auszustellen. Wenn Jean erst wieder gesund war, würde er seine Beziehungen spielen lassen, um Enjolras das alles zu ermöglichen.
Papa hatte entschieden, dass sie derzeit in St. Marie-Etienne besser aufgehoben war als in l’Aurore. Er hatte bemerkt, wie blass sie seit Jeans Verschwinden geworden war und fürchtete wohl, dass sie krank würde. Dabei ging es Francoise gut. Wenn man von der Schmach absah, dass ihr künftiger Bräutigam aus Furcht sie zu heiraten über alle Berge floh.
Doch krank fühlte sie sich deswegen nicht. Die Idee, ihre Cousine Amelie in deren Stadthaus zu besuchen, in dem sie derzeit residierte, gefiel ihr jedoch und daher sagte sie zu. Vor allem, da Vater ihr seinen loyalsten Diener mitschickte, um ein Auge auf sie zu haben. Ein wenig plagte sie das schlechte Gewissen ob der Ahnungslosigkeit ihres armen Papas, der ja nicht einmal ahnte, welch schlimmer Finger der gute Gilbert war. Und dass sie nur allzu bereit war, sich auf seine Verführungskünste einzulassen.
Gilbert half ihr beim Einsteigen in die Kutsche und verabschiedete sich von den beiden Familien, die sich im Innenhof von l’Aurore eingefunden hatten, mit einer höfischen Verbeugung, denn offiziell war er stumm, damit Vater ihn nicht an seiner Stimme wiedererkannte.
„Grüß mir meine liebe Schwägerin“, bat Papa.
„Aber natürlich.“ Francoise beugte sich aus dem Fenster und winkte mit ihrem Tuch, während sich die Kutsche in Bewegung setzte.
Kaum hatten sie l’Aurore verlassen, zupfte sie in freudiger Erwartung an ihrer kleinen Tasche. „Das wird eine aufregende Zeit, lieber Gilbert. Ich habe einiges für dich vorbereitet.“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu, öffnete die Tasche und zeigte ihm einen Strick, den sie eingepackt hatte. Amüsiert sah sie, wie Gilbert sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich und er schluckte. Das Trappeln der Pferde und das Knarren der Kutschräder verhinderten, dass der Kutscher etwas von ihrem Gespräch mitbekam und so wagte es auch Gilbert wieder zu sprechen.
„Ich bin sehr gespannt, was Ihr damit vorhabt, Herrin. Wo habt Ihr das überhaupt her?“
„Aus dem Stall, Gilbert. Natürlich aus dem Stall. Ich muss dich allerdings warnen, meine Tante ist ein wenig streng in manchen Dingen und sie wird ein äußerst scharfes Auge auf mich haben. Wir müssen also vorsichtig sein.“
„Natürlich, Mademoiselle. Wie immer.“
Zwei Stunden später hatten sie die Stadt erreicht. Tante Loraines Haus besaß drei Stockwerke und überragte fast jedes Gebäude in der Nähe. Efeuranken kletterten an der Außenwand empor, umrahmten die Fenster und Türen. Loraine und Amelie empfingen ihren Gast an der Eingangspforte. Es war einige Jahre her, seit Francoise ihre ein Jahr jüngere Cousine gesehen hatte. Damals war sie noch ein Kind gewesen. Nun stand ihr eine atemberaubend schöne Frau mit braunen Locken gegenüber. Fast hätten sie Schwestern sein können. Erfreut fielen sie sich in die Arme.
„Ich habe dein Zimmer persönlich hergerichtet“, sagte Amelie stolz und griff nach Francoises Hand. „Komm, du musst es dir gleich
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