Phantom der Tiefe
Oberst griff nach dem Brocken und hielt ihn unmittelbar vor seine Augen.
»Haben Sie es nicht auch gespürt, als sie es anfaßten?« fragte er Kaya, ohne den Blick von dem Fund zu lassen. »Es hat etwas - ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll - Erhabenes . Ich brauche Ihnen doch nicht wirklich zu sagen, worum es sich handeln könnte, oder ...?«
Bislang hatte sich Kaya geweigert, das, was kurz als Vermutung in ihr aufgeblitzt war, tatsächlich als Möglichkeit anzunehmen. Sardres Worte änderten dies.
»Viele haben danach gesucht«, sagte sie leise. »Auch ausländische Expeditionen, die mit modernstem Gerät ausgerüstet waren. Aber sie alle scheiterten. Bis heute ist strittig, ob der Ararat wirklich die Adresse ist, wo nach der Sintflut Noahs Arche vor Anker ging!«
»Und das hier?« fragte Sardre.
»Es kann alles mögliche sein.«
Er verneinte. »Das kann es nicht. Wir haben es analysieren lassen. Es . ist uralt.«
»Wie alt?«
»Ein paar tausend Jahre. Genauer wollte sich kein Wissenschaftler festlegen.«
»Das übliche Spiel .«
»Sie haben immer noch keine Ahnung, was ich von Ihnen will?«
Kaya schüttelte den Kopf. »Sagen Sie es mir.«
»Ich bin angehalten worden, die Ursache des Phänomens, das unsere Waffen und Geräte im Araratgebiet lahmlegt, herauszufinden, und zwar schnell. Wahrscheinlich erhofft man sich von Regierungsseite, in den Besitz dieser Kraft zu kommen - sie nutzbar zu machen.«
»Für Kriegszwecke.«
»Wozu sonst?«
Kaya lächelte kühl. »Ja, wozu sonst? Aber was hat das mit diesem Fund zu tun, selbst wenn er ein Teil der Arche wäre?«
»Ich hätte es nicht so weit gebracht, wenn ich nicht auch Phantasie besäße. Das Talent, mir Dinge vorzustellen - seien sie noch so abwegig.«
Kaya gestand sich ein, daß ihr erster Eindruck von Sardre sich gewandelt hatte. Der Oberst wirkte plötzlich noch gefährlicher auf sie.
»Und?« fragte sie.
»Auf meine Art bin ich ein sehr gläubiger Mann«, sagte er. »Ich wäre ein Narr, würde ich ausschließen, daß unter Umständen auch die Arche hinter dem Ausfall unserer Technik stecken könnte.«
Kaya dachte über das Gehörte nach. »Welche Aussicht hätte ich, etwas zu finden, was ganze Bataillone vergeblich gesucht haben?«
Sardres ins Nichts gerichteter Blick kehrte in die Wirklichkeit zurück. »Sie sollen es nicht allein suchen.«
»Nicht allein? Wer wird mir helfen?«
»Ich hoffe, der Überlebende, den wir aufgelesen haben.«
Kaya legte die Stirn in Falten. »Sagten Sie nicht, er habe - den Verstand verloren?«
Sardre nickte. »Das hatte er - bis gestern. Aber ich schlage vor, Sie machen sich selbst ein Bild davon. Wollen Sie?« Kaya brauchte keine Sekunde, um sich zu entscheiden.
*
Acht Stunden später Koza-Han-Klinikum für Psychohygiene, Istanbul
Ein kleiner Helikopter setzte Kaya Beishir auf dem Dach des riesigen Gebäudekomplexes am Westrand der Stadt ab. Aus der Luft betrachtet, wirkte die umgebende Grünfläche wie ein ganz normaler, rege besuchter Park. Bei genauerem Hinsehen aber, spätestens aus der Nähe, fiel das exaltierte Verhalten der Spaziergänger auf. Und ihre Einheitskleidung.
Während des Fluges hatte Kaya kaum ein Wort mit dem Piloten gewechselt. Sie war viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt gewesen; damit, das aufzuarbeiten, was Oberst Sardre ihr von den Vorkommnissen am Araratgebirge erzählt hatte. Und von seinen Erwartungen, die er in Kaya setzte - und den Mann, den sie erst noch kennenlernen mußte.
Mit einem flauen Gefühl klopfte sie dem Piloten zum Abschied und Dank auf die Schulter, dann stieg sie aus dem Kopter auf das mit rutschhemmenden Kautschukplatten ausgelegte Flachdach des Klinikums.
Schnelle Schritte brachten sie aus dem Bereich der Rotorblätter. Sie wurde bereits erwartet. Ein frierender Mann in weißem Kittel schüttelte ihr die Hand und sagte: »Ich bin Dr. Finik, Leiter der psychiatrischen Station. Oberst Sardre hat mich über Ihr Kommen verständigt. Es ist bereits alles vorbereitet.«
»Vorbereitet?« fragte Kaya, während sie sich von dem Arzt durch eine Tür ins Treppenhaus lotsen ließ.
»Ihr Gespräch mit dem Patienten.«
Wie er »dem Patienten« sagte, jagte Kaya einen kalten Schauer den Rücken hinunter.
Auf dem Weg zu dem Raum, in dem Kemer Tersane untergebracht war, ergaben sich noch etliche Gelegenheiten, diesen Schauder zu vertiefen. Kaya wurde zum ersten Mal bewußt, wie viele Spielarten psychischer Defekte es gab. Geistige Behinderungen, die
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