Phantom der Tiefe
schlafenzulegen.
Kaya hatte mehrmals das Gefühl, etwas Bedeutungsvolles sagen zu müssen. Am Ende beließ sie es jedoch bei ein paar Floskeln, die sie sich auch hätte sparen können. Kemer Tersane schien ihr gar nicht zuzuhören. Er war tief in Gedanken versunken.
Vielleicht dachte er gerade an seinen Großvater.
Kaya schlief schlecht in dieser Nacht. Und als der Morgen graute, war sie als eine der Ersten wieder auf den Beinen.
Es geht los, dachte sie beinahe erleichtert. Endlich geht es los.
Noch heute würde sich herausstellen, ob es den Höhlenschacht, von dem Tersane gesprochen hatte, wirklich gab.
Und ob er zum Grab für die vermißten Pilger geworden war .
Die Grimasse des Toten schimmerte kobaltblau durch eine zentimeterdicke Eisschicht zu ihnen herauf.
Kemer war fassungslos, als er Akhan erkannte. Akhan, der ihn anstarrte, als wäre immer noch ein grausiger Hauch von Leben in ihm - und als gäbe er ihm die Schuld daran, hier lebendig begraben zu sein bis zum nächsten Tauwetter .
»Ich verstehe das nicht«, hörte Kemer die Stimme Selim Zeytans, der darauf achtete, daß sie einander gegenseitig sicherten und keine unnötigen Risiken eingingen.
»Was meinen Sie?« fragte Kaya.
»Warum man ihn nicht schon früher gefunden hat«, entgegnete Zeytan, »trotz der Hunde und Suchmannschaften, die hier unterwegs waren .«
Zeytan verstummte, und keiner aus dem halben Dutzend, das am frühen Morgen vom Basislager aus aufgebrochen war, erwiderte etwas. Alle starrten nur geschockt auf das in Eis gefaßte Gesicht.
Seit Stunden waren sie schon unterwegs, und Kemer kam es vor, als hätte er bei seinem einen Monat zurückliegenden Alleingang viel weniger Zeit gebraucht, um diese Höhe zu erreichen. Aber das mochte einer Fehleinschätzung entspringen. Die ganze Wahrheit war, daß er kaum noch eine Erinnerungen hatte, was die Dauer seines damaligen Aufstiegs betraf.
Und der Aufstieg selbst . nun, Kemer wußte noch von Akhan -und daß er den Verstorbenen liegengelassen hatte, um weiter der Spur der anderen Pilger zu folgen. Bis zu dem Loch im Berg, das auch ein Loch in seine Erinnerung gebrannt zu haben schien!
Von den damaligen, gutleserlichen Fährten war nichts mehr zu erkennen, und der Boden unter der dünnen Schicht Neuschnee war gefährlich rutschig geworden. Geschmolzen und wiedererstarrt. Aber die speziellen Sohlen und Handschuhe fanden ausreichenden Halt .
»Es ist nicht mehr weit«, rann es rauh über Kemers Lippen. Sein Blick suchte und fand den Engel, der ein paar Schritte entfernt stand. Natürlich war es kein richtiger Engel - aber das machte für Kemer keinen Unterschied. Das Gesicht der Frau war unter Kapuze und Schal kaum zu erkennen, dennoch glaubte er es klar vor sich zu sehen. Es war wunderschön, und irgendwie erinnerte es ihn an seine verstorbene Mutter ...
»Sind Sie sicher?« fragte sie.
»Ja.« Er erzählte, wie er gemeinsam mit Akhan Zeuge der Selbstzerstörung des Geschwaders geworden war.
Wenig später setzten sie ihren Weg fort, ohne auch nur versucht zu haben, Akhan aus seiner eisigen Gruft zu befreien.
Dafür würde später noch Zeit sein. Andere konnten sich darum kümmern.
Und dann erreichten sie die Stelle, von der Kemer Tersane geschworen hätte, daß sie vor einem Monat noch ganz anders ausgesehen hatte.
Daß er hier den Berg betreten hatte.
Die Merkmale der übrigen umgebenden Gebirgslandschaft stimmten noch genau mit den Eindrücken von damals überein - nur dort, wo sich ihm der Stollen geöffnet hatte .
. schimmerte nun die weiße Schneedecke ohne die geringste Unterbrechung!
Kemer war stehengeblieben.
»Wo ist es?« fragte Kaya Beishir keineswegs mit Engelsgeduld -und auch nicht mit Engelszunge.
Kemers Reaktion, seine ganze Haltung schien ihr zu verraten, daß sich seine erst kürzlich noch demonstrierte Zuversicht nun als Luftschloß entpuppte.
»Es war hier - ich schwöre es bei meinem Leben!« Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Stelle, die er meinte.
Zeytan löste sich von der Gruppe und befreite die Fläche, auf die Kemer wies, vom Schnee. Alles, was darunter zum Vorschein kam, war der übliche, allgegenwärtige Fels.
»Sie gehen sehr leichtfertig mit dem einzigen Leben um, das Sie haben, junger Freund«, sagte er, nachdem er selbst seine Bemühungen eingestellt hatte. Andere aus der Gruppe setzten sein Tun fort. Niemand wollte akzeptieren, daß sie den beschwerlichen Aufstieg umsonst absolviert hatten.
»Sehen Sie sich noch einmal ganz genau um.
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