Phantom der Tiefe
Gerät.
Seit ihre Begleiter bei ihr waren, war das Gefühl, beobachtet zu werden, schwächer und damit erträglich geworden. Gefolgt von drei Soldaten in identischer Ausrüstung wie der ihren, übernahm Kaya die Spitze und strebte dem Ende des Stollens entgegen.
Es kam ihr vor, als würde sie nicht nur durch meterdicken Felsen von der Außenwelt getrennt, sondern von etwas noch beträchtlich Massiverem. Leise fauchend strömte Sauerstoff in ihren Mund. Ihr verbrauchter Atem wurde mit einem ähnlich Geräusch abgesaugt.
Sonst war es still. Unheimlich still.
Die zähe Flüssigkeit leistete ihren Schwimmbewegungen keinen nennenswerten Widerstand, schien aber jeden Laut zu ersticken. Ab und zu meinte Kaya auch, das Gewicht der Säure auf sich zu spüren, und irgendwann sogar . etwas zu riechen.
Wäre es der faulige Gestank gewesen, der ihnen aus Zeytans Klei-dung entgegengeschlagen war, hätte sie ein Leck in ihrem Anzug befürchtet. Aber es war ein sehr angenehmer Duft, dessen Herkunft unbestimmbar blieb, vielleicht auch nur Einbildung war .
Dann tauchte das Ende des Stollens im Chemo-Licht auf.
Kaya erhöhte das Tempo. Die ganze Zeit über hatten die ungewohnten Sinneseindrücke den eigentlichen Grund ihres waghalsigen Unternehmens ein wenig in Vergessenheit geraten lassen. Jetzt rückte er wieder in den Vordergrund .
Unvermittelt wurde Kayas Hüfte von einem Tritt getroffen. Vor Schreck verlor sie fast die Fackel. Als sie den Kopf drehte, sah sie, wie einer der Taucher dabei war, sie zu überholen. Der Tunneldurchmesser erlaubte dies, aber es verstieß gegen die zuvor getroffene Abmachung. Bei dem völlig unmotivierten Manöver war Kaya von einer Schwimmflosse getroffen worden.
Da keine verbale Verständigung möglich war, versuchte sie nach dem Mann zu greifen. Sie bekam ihn auch am Bein zu fassen, aber er schüttelte sie ohne die geringste Rücksichtnahme wieder ab.
Und dann war er tatsächlich an ihr vorbei.
Kaya vermutete übertriebenen Ehrgeiz hinter der Aktion. Offenbar wollte der Mann - obwohl es sehr schnell gegangen war, glaubte sie Han Takim erkannt zu haben, der während des gemeinsamen Lehrgangs nie über die Stränge geschlagen war - als erster einen Blick auf das werfen, was sich jenseits des Schachtes befand.
Vielleicht haben Kemer und ich zuviel von dm Erwartungen gesprochen, die wir mit der Expedition verbinden, dachte Kaya selbstkritisch und durchaus versöhnlich. Sie war nicht so ehrgeizzerfressen, daß sie unbedingt die erste sein mußte, die das sah, was Tersane wieder vergessen hatte - warum, wußte niemand.
Während sie Takim folgte, irrten ihre Gedanken kurz zu den vermißten Pilgern. Was war aus ihnen geworden? Waren sie, wie Zey-tan, der Säure zum Opfer gefallen? Oder befanden sie sich ganz woanders? Es mochte noch andere Stollen geben, höhergelegene, und die mußten nicht unbedingt geflutet sein .
Takim war jetzt am Ende des Schachtes angelangt und schwamm in jenen Bereich, der sich dahinter öffnete.
Kaya setzte nach und fühlte, wie auch die beiden anderen Soldaten hinter ihr das Tempo forcierten - so sehr, als wollten auch sie noch an ihr vorbei.
Takim entschwand ihrer Sicht.
Erst jetzt fiel Kaya auf, daß sie die einzige war, die eine Fackel entzündet hatte. Im Stollen hatte das ausgereicht, aber dort vorne schien sich ein sehr viel größeres Gewölbe zu erstrecken. Finster und bedrohlich gähnte es ihnen entgegen.
Kaya begann sich Sorgen um ihren Begleiter zu machen. Gleichzeitig nahm sie wieder den Duft wahr - noch intensiver als vorhin.
Sie blinzelte. Rechts und links versuchten Cadir und Baraz zu überholen.
Nein, dachte sie. NEIN!
Und was sie dann tat, war ebenso unverzeihlich wie unerklärlich.
Sie rastete völlig aus! Von einem Moment zum anderen sank ihre Hemmschwelle, wie sie es noch nie bei sich erlebt hatte. Die Folgen waren katastrophal.
Kaya stieß ihre Fackel erst in Cadirs Richtung und brannte ein Loch in dessen Anzug - dann schwenkte sie zu Baraz, der ihre Tat noch nicht bemerkt hatte.
Alles ging blitzschnell. Auch die zweite Anzughülle riß unter der Glut, die Kaya wie eine Waffe benutzte!
Und die Säure fand ihren Weg .
*
Kaya hörte keine Schreie. Nur die Ausläufer der qualvollen Zuckungen, mit denen Cadir und Baraz starben, erreichten ihre Sinne durch die Haut des Tauchanzugs.
Ihr Denken erreichten sie nicht.
Da war ... dieser Duft, dieser unglaubliche, betörende, regelrecht berauschende Duft, der vom Ende des Stollens zu kommen
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