Phantom des Alexander Wolf
sobald er sie berührte. Aber seine Anziehungskraft war unwiderstehlich. Jelena Nikolajewna wusste, es war unvermeidlich, und als sie seine Geliebte wurde, kam es ihr vor wie die Erinnerung an etwas vor langer Zeit Geschehenes. Und noch ein wenig später begriff sie, wie dieser Mann zu existieren imstande war und was ihn auf der langwierigen Reise in den Tod aufrechthielt: Er war morphiumsüchtig. Einmal fragte sie ihn, wie es geschehen war, dass er, bei seinem Geist und seinen Fähigkeiten, er, der zweifellos höher stand als alle, die sie kannte, in einen derart hoffnungslosen Zustand geraten konnte.
»Deshalb, weil ich meinem Tod entkommen bin«, erwiderte er.
Ihre Liebesaffäre mit ihm wurde noch von einem tragischen Ereignis überschattet. Seine frühere Geliebte, Gastgeberin in jenem Haus, wo Jelena Nikolajewna zum erstenmal die Musik Skrjabins gehört hatte, konnte sich mit ihrer neuen Lage nicht abfinden. Sie schrieb Drohbriefe, kündigte Enthüllungen an und lauerte ihm stundenlang an seiner Haustür auf. Sie war ein hohler Mensch, hatte, wie er sich ausdrückte, in ihrem ganzen Leben bloß einmal über irgendwelchen Quatsch nachgedacht, sich dann in ihn verliebt, und das füllte ihr gesamtes Dasein aus. Ob er sie geliebt habe? Nein, es sei ein in die Länge gezogenes Missverständnis gewesen. Das tragisch endete: Sie vergiftete sich, dabei hinterließ sie ihrem Mann einen ausführlichen Brief, in dem sie die Geschichte ihrer Affäre erzählte und erklärte, sie nehme sich das Leben, weil dieser Mann nicht mehr mit ihr zusammen sein wolle. Mit naiver Grausamkeit fügte sie hinzu: Du, der du mich so geliebt hast, müsstest verstehen, was das heißt.
Er versuchte, auch Jelena Nikolajewna an das Morphium zu gewöhnen, und das war im Grunde das einzige, was ihm nicht gelang. Nach dem ersten Versuch empfand sie eine, wie sie sagte, eiskalte, bislang unerreichbare Durchsichtigkeit, aber dann wurde ihr schlecht, und sie wiederholte diesen Versuch nie wieder. Bei allem anderen spürte sie, dass sie nachgeben und letzten Endes zugrunde gehen würde. Was sie anfangs als interessant wahrgenommen hatte, als Möglichkeit, die Welt neu zu erfassen, kam ihr mehr und mehr natürlich vor. Was sie zeitlebens als wichtig und wesentlich angesehen hatte, verlor unaufhaltsam und, so schien es, unwiederbringlich seinen Wert. Was sie geliebt hatte, liebte sie kaum mehr. Ihr war, als ob alles dahinwelkte und als ob lediglich, ab und an, eine tödliche Ekstase übrigbliebe und danach Leere. Ihr war, als hätte sie seit der Begegnung mit ihm schon Jahre eines ermüdenden Lebens zurückgelegt und als wäre von der früheren Lenotschka, die sie doch vor gar nicht langer Zeit gewesen war, nichts mehr übrig in ihr. Sogar ihr Charakter änderte sich, ihre Bewegungen wurden zögerlich, ihre Reaktionen auf äußere Ereignisse verloren an Kraft, kurzum, alles wirkte, als wäre sie in einem tiefen Seelenleiden versunken. Wenn sich das noch fortsetzte, so spürte sie, würde es im Nichts enden oder mit dem Fall in einen kalten Abgrund. Die Versuche, die sie unternahm, um sein Leben zu ändern – denn zweifellos liebte sie ihn –, führten zu nichts. Und jene Wärme, die in ihr gewesen war, wurde allmählich schwächer und schwand dahin.
Doch wie ein Mensch, von Gas halb vergiftet und schon fast dabei, das Bewusstsein zu verlieren, noch die Kraft aufbringt, zum Fenster zu kriechen und es zu öffnen, so hatte sie eines Morgens nach dem Erwachen noch die Kraft, ihre Sachen zu packen und zum Bahnhof zu fahren und von dort nach Paris. Davor hatte sie alles irgend Mögliche versucht, um ihn zu einem einigermaßen normalen Leben zurückzubringen. Sie berichtete mir von ihrem letzten Gespräch mit ihm. Es war abends gewesen, in seiner Wohnung. Er saß im Sessel, hatte ein müdes Gesicht und erloschene Augen. Sie sagte:
»In deinem Leben ist irgendwie alles so fürchterlich, dass es mir völlig den Mut nimmt. Du sagst, du liebst mich?«
Er nickte.
»Kannst du dir vorstellen, ich könnte ein Kind haben?«
»Nein.«
»Mir scheint, ich hätte genauso das Recht, Mutter zu sein, wie jede andere Frau.«
Er zuckte die Schultern.
»Ich könnte deine Frau werden. Zugleich ist völlig klar – das ist absurd. Ist unmöglich, das eine wie das andere. Warum? Du meinst, du seist zum Tod verurteilt. Aber wir sind alle zum Tod verurteilt.«
»Anders.«
»Warum?«
»Weil das alle nur theoretisch begreifen, ich aber weiß, was das ist. Warum? Ich kann
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