Phantom
Wärterin.« Entweder war die Frau eine Aushilfe oder den ersten Tag da.
»Einen Moment, bitte.« Ich wurde weiterverbunden. »Watkins«, murmelte eine männliche Stimme.
»Ich möchte bitte Helen Grimes sprechen.«
»Wen?«
»Officer Helen Grimes.«
»Oh, die arbeitet nicht mehr hier.«
»Können Sie mir bitte sagen, wo ich sie erreichen kann, Mr. Watkins? Es ist sehr wichtig.«
»Bleiben Sie dran!« Es knallte – offenbar hatte er den Hörer auf den Tisch gelegt. Im Hintergrund sang Randy Travis. Es dauerte eine Weile, bis der Mann zurückkam. »Wir sind nicht befugt, die Adresse rauszugeben, Ma’am.«
»Ich verstehe. Wenn Sie mir Ihren Vornamen sagen, schicke ich die Pakete an Sie, und Sie können sie dann weiterleiten.«
Pause. Dann: »Was für Pakete?«
»Miss Grimes hat ein Konversationslexikon bei uns bestellt, und ich habe angerufen, um sie zu fragen, ob wir es per Paketpost oder per Auslieferungsdienst schicken sollen. Es ist eine Kostenfrage, wissen Sie: Immerhin sind es sechs Pakete à vier Kilo.«
»Hierher können Sie sie überhaupt nicht schicken«, erklärte er unwirsch.
»Aber was soll ich denn dann machen? Miss Grimes hat uns keine andere Adresse gegeben.«
»Warten Sie ’n Augenblick.«
Ich hörte Papier rascheln und dann das Klicken einer Tastatur. »Ich kann Ihnen ihr Postfach geben«, bot Watkins an. Er nannte mir die Angaben und legte grußlos auf.
Das Postamt lag in Goochland County. Ich rief einen Beamten der dortigen Kreisverwaltung an, den ich gut kannte, und wußte kurz darauf, wo ich Helen Grimes finden würde. Ihre Telefonnummer stand allerdings nicht in den Unterlagen.
Um elf Uhr nahm ich Mantel und Handtasche und ging zu Lucy, die schon wieder im Arbeitszimmer saß. »Ich muß für ein paar Stunden weg.«
»Du hast am Telefon gelogen.« Sie starrte auf den Bildschirm. »Du mußt ihr kein Konversationslexikon schicken.«
»Du hast recht«, gab ich zu.
»Dann ist es also manchmal in Ordnung zu lügen, und manchmal nicht.«
»Es ist niemals wirklich in Ordnung, Lucy, aber es gibt Momente, in denen man keine andere Wahl hat.«
Auf dem Boden lagen aufgeschlagene Computerhandbücher herum, Modemlämpchen blinkten, und auf dem Schirm pulsierte der Cursor. Ich küßte meine Nichte auf den Scheitel, ging hinaus, holte meinen Ruger und steckte ihn in die Handtasche. Ich hatte zwar die Genehmigung, eine Waffe verdeckt zu tragen, machte jedoch kaum je Gebrauch davon.
Der Himmel sah aus wie eine graue Marmorplatte. Während ich in westlicher Richtung zur River Road fuhr, dachte ich an das, was vor mir lag. Würde Nicholas Grueman gegen Patterson ankommen können?
Helen Grimes wohnte am Ende einer unbefestigten Straße westlich des North Pole Restaurant am Rande einer Farm. Ihr Haus ähnelte eher einer kleinen Scheune. Ein paar Bäume standen um das Gebäude, und in den Blumenkästen dörrten Pflanzenreste vor sich hin. Vor der Veranda stand ein alter Chrysler. Ich stieg die etwas schadhaften Stufen hinauf und klopfte.
Als Helen Grimes die Tür öffnete, erkannte ich an ihrem Ge sichtsausdruck, daß es überflüssig war, mich vorzustellen. Sie trug ein Holzfällerhemd über ihren ausgebleichten Jeans, stemmte die Hände in die Seiten und starrte mich feindselig an.
»Woher haben Sie meine Adresse?«
»Von der Kreisverwaltung«, erklärte ich.
»Wie kommen Sie dazu, mir nachzuschnüffeln? Würde es Ihnen gefallen, wenn ich das bei Ihnen täte?«
»Wenn Sie meine Hilfe ebenso dringend brauchten wie ich die Ihre, hätte ich nichts dagegen«, erwiderte ich.
Sie sah mich schweigend an. Ich bemerkte, daß ihre Haare feucht waren. Am rechten Ohrläppchen klebte ein Rest dunkler Farbe.
»Der Mann, für den Sie gearbeitet haben, ist ermordet worden, und drei weitere Menschen. Es besteht der begründete Verdacht, daß der Täter ein Häftling aus dem Spring-Street Gefängnis ist, einer, der kurz vor Ronnie Waddells Hinrichtung entlassen wurde.«
Ihr Blick schweifte ab. »Ich weiß von keiner Entlassung.«
»Vielleicht ist er nicht offiziell entlassen worden. Aber Ihnen als Wärterin müßte es doch aufgefallen sein, wenn ein Gefangener fehlte.«
»Mir ist nichts dergleichen aufgefallen.«
»Warum arbeiten Sie nicht mehr im Gefängnis?«
»Aus gesundheitlichen Gründen.«
Ich hörte, wie im Haus, dessen Zugang sie mit ihrem massigen Körper blockierte, eine Tür geschlossen wurde; es klang wie eine Schranktür. Ich ließ nicht locker. »Erinnern Sie sich daran, daß Ronnie
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