Phantom
Umschlag enthielt.«
»Und – enthielt er etwas von Bedeutung?«
»Nur ein paar Quittungen, von Restaurants und Mautstationen.«
»Quittungen?« wiederholte Wesley verständnislos. »Haben Sie sie mitgebracht?«
»Sie liegen in der Akte.« Ich zog die Fotokopien heraus. »Das Datum ist überall gleich: der 28. November.«
»Da wurde Waddell doch von Mecklenburg nach Richmond verlegt.«
»Richtig. Fünfzehn Tage vor der Hinrichtung.«
»In Anbetracht der Möglichkeit, daß ein anderer als Waddell hingerichtet wurde, könnten diese Quittungen ein Schlüssel sein«, meinte Wesley. »Vielleicht hat der Mann, der an seiner Stelle starb, sie als Beweismittel an sich genommen.«
»Und wo soll er sie in die Finger bekommen haben?«
»Vielleicht auf dem Transport von Mecklenburg nach Richmond. Die Fahrt hätte eine Gelegenheit geboten, Waddell gegen jemand anderen auszutauschen.«
»Sie meinen, sie haben zum Essen angehalten?«
»Normalerweise durfte der Wagen nicht anhalten, wenn er einen Todeskandidaten nach Richmond brachte, aber wenn es sich um ein Komplott handelte, dann ist alles möglich. Vielleicht hielten sie irgendwo an und holten etwas zu essen, und in dieser Zeit wurde Waddell befreit und ein anderer nahm seinen Platz ein. Wie hätten die Leute im SpringStreet-Gefängnis darauf kommen sollen, daß der Mann, den man ihnen brachte, nicht Waddell war?«
»Und wenn er es ihnen gesagt hätte?«
»Dann wäre er nur milde belächelt worden«, sagte Benton.
»Aber was ist mit Waddells Mutter?« fragte ich. »Sie hat ihn vor der Hinrichtung besucht Sie muß doch gesehen haben, daß der Häftling nicht ihr Sohn war.«
»Wir müssen erst noch feststellen, ob sie tatsächlich dort war. Aber es wäre durchaus in ihrem Sinn gewesen, bei dem Betrug mitzuspielen: Auch wenn sie eine anständige Frau is t – ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ihrem Sohn den Tod wünschte.«
»Sie sind überzeugt, daß der falsche Mann hingerichtet wurde, nicht wahr?« fragte ich widerstrebend, denn es gab im Augenblick keine Theorie, die mir ungelegener gewesen wäre.
Statt einer Antwort öffnete er den braunen Umschlag, der Robyn Naismiths Fotos enthielt. Sooft ich die Aufnahmen auch wiedersah, sie schockierten mich jedesmal aufs neue. Langsam blätterte er die Bildergeschichte ihres schrecklichen Todes durch. Dann sagte er: »Die drei Morde, um die es uns jetzt geht, passen nicht zu Waddells Persönlichkeitsprofil.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe eiskalte Killer erlebt, die plötzlich die Nerven verloren und Fehler machten, aber ich habe noch nicht einmal erlebt, daß ein Psychopath plötzlich rational vorging.«
Wesley machte zwar nie ein Aufhebens davon, aber er hatte im Zuge seiner Arbeit viele Stunden mit Männern wie Theodore Bundy, David Berkowitz, Sirhan Sirhan, Richard Speck und Charles Manson verbracht und mit weniger bekannten Ungeheuern. Marino erzählte mir einmal, daß Benton jedes-mal, wenn er aus einem der Hochsicherheitsgefängnisse zurückkomme, schwerkrank aussehe, wie vergiftet, und daß es ihn ungeheuer viel Kraft koste, die Zuneigung zu ertragen, die diese Leute zu ihm entwickelten. Einige der schlimmsten Sadisten jüngerer Zeit schrieben ihm regelmäßig, schickten Weihnachtskarten und erkundigten sich nach dem Befinden seiner Familie. Kein Wunder, daß Wesley meistens ernst war.
»Steht es denn fest, daß Waddell ein Psychopath war?« fragte ich.
»Das Gericht entschied, daß er zum Zeitpunkt des Mordes an Robyn Naismith zurechnungsfähig war.« Er zog ein Foto aus dem Stapel und schob es mir hin. »Aber ich glaube das nicht.«
Das Foto war jenes, an das ich mich am deutlichsten erinnerte, und als ich es betrachtete, konnte ich mir vorstellen, was eine Person empfinden mußte, die sich einem solchen Anblick unvorbereitet gegenübersah.
Robyns Wohnzimmer war nur spärlich möbliert: drei rundlehnige Sessel mit grünen Sitzkissen, ein schokoladenbraunes Nappaledersofa, ein kleiner Buchara-Teppich unter einem Couchtisch mit Glasplatte. Der Raum hatte einen Parkettboden, die Holzverkleidung der Wände war mahagonifarben gebeizt. Gegenüber der Eingangstür stand ein großes Fernsehgerät. Der Blick jedes Eintretenden mußte sofort auf die nackte, blutüberströmte Leiche fallen. Auf dem Foto sah es aus, als säße Robyn in einer Pfütze roter Ölfarbe. Neben ihr lagen mehrere blutige Handtücher. Die Tatwaffe war nicht gefunden worden, aber die Polizei hatte festgestellt, daß von dem Satz
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