Philadelphia Blues
Colin es nicht lesen wollte, tat er es. Es war der Bericht eines Arztes. Vermutlich aus dem Krankenhaus.
'Kilian ist schwer traumatisiert. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob er die Erinnerung an den Unfall nur verdrängt hat, oder ob seine Amnesie dauerhaft sein wird, aber ich empfehle auf jeden Fall eine therapeutische Behandlung und eine Umfeldveränderung. Er braucht Abstand und ein liebevolles Umfeld, das ihm helfen kann, seine Erinnerung wiederzufinden, um diesen Schock zu verarbeiten. Laut der Obduktion von Gwen McDermott, war Kilians Mutter bereits mehr als zwei Stunden tot, als die Rettungskräfte am abgelegenen Unfallort eintrafen. Warum Kilian den Notruf erst lange nach ihrem Tod wählte, kann zum jetzigen Zeitpunkt nur spekuliert werden.
Weiterhin ist unklar, inwieweit Kilian über die Krebserkrankung seiner Mutter Bescheid wusste. Das Folgende ist völlig spekulativ, es erscheint mir aber im Bereich des Möglichen, dass Kilian einer Bitte oder sogar dem ausdrücklichen Wunsch seiner Mutter entsprach und aus dem Grund den Notruf erst wählte, als sie tot war. Es wäre zumindest eine Erklärung für Kilians Amnesie.
Eines steht jedoch fest. Gwen McDermott wäre ohne diesen Unfall in den nächsten sechs bis zwölf Monaten an ihrer Krebserkrankung gestorben.'
„Wie lange weißt du das schon?“, fragte Colin schließlich und sah Adrian wieder an. „Wie lange weißt du schon, dass Kilian nicht die komplette Akte bei sich hatte?“
„Seit einer Woche“, antwortete Adrian. „Deshalb rief ich auch bei dir an, als du mich so nett empfangen hast.“ Colin verzog beschämt das Gesicht, doch Adrian winkte ab. „Ich wollte dir davon nicht am Telefon erzählen, meine Einladung hierher kam mir da gerade recht, das gebe ich zu. Aber ich wollte mir auch selbst ein Bild machen und er scheint wirklich nichts mehr davon zu wissen, oder?“
Colin konnte nur die Schultern zucken, denn das Kilian nicht über seine Mutter sprechen wollte, wusste Adrian bereits. „Glaubst du, ich sollte ihn zu einem Therapeuten bringen?“
„Macht er auf dich den Eindruck, einen zu brauchen?“
„Eigentlich nicht, aber was heißt das schon?“
Adrian nickte. „Guter Einwand. Wenn du möchtest, telefoniere ich mal ein wenig herum. Ich kenne ein paar Therapeuten, mit denen ich reden könnte, ohne einen Namen zu nennen. Aber ich bezweifle, dass sie eine Therapie empfehlen würden, solange Kilian nicht irgendwie verhaltensauffällig ist und meiner Meinung nach ist er das nicht.“ Adrian überlegte kurz. „Ich meine, er nervt, ist frech, hat einen Magen wie ein Fass ohne Boden, benutzt eine Menge Kraftausdrücke – ein typischer Teenager eben.“
Colin grinste, obwohl ihm eigentlich eher danach war, etwas gegen die Wand zu werfen. „Gut zusammengefasst, Dad.“
„Spinner.“ Adrian lachte leise. „Es ist zwar nicht so, als hätte ich jahrelange Erfahrung damit, aber ich würde mir mehr Sorgen um Kilian machen, wenn er anders wäre, als er jetzt ist. Dass mit der nicht vorhandenen Trauer könnte allerdings ein Problem werden.“
Colin nickte. „Ich kümmere mich darum, wenn es soweit ist.“
„Mehr kannst du sowieso nicht tun, behaupte ich jetzt mal“, sagte Adrian überlegend. „Aber ich werde trotzdem herum telefonieren und Bescheid geben, falls ich einen anderen Rat bekomme.“ Adrian sah ihn forschend an. „Du siehst aus, als bräuchtest du etwas Zeit zum Nachdenken.“
So konnte man es auch nennen. Gwen war todkrank gewesen und hatte nichts gesagt und Kilian hatte neben ihr gesessen, als sie starb. Noch dazu diese Geschichte mit seinen Eltern und den verbrannten Bildern. Von einem gewissen Raum im Keller dieses Hauses gar nicht zu reden. Das waren alles Eröffnungen, auf die Colin gut und gerne verzichtet hätte. Er hatte genug Schwierigkeiten damit, den Unfall von Gwen zu verdauen und dann das. Dabei waren sie noch keinen Tag hier. Colin wollte gar nicht wissen, was er bis morgen Abend, wenn sie wieder nach Philadelphia fuhren, noch alles erfahren würde.
„Komm mit. Ich zeig' dir was.“ Colin erstarrte, was Adrian nicht entging, der umgehend den Kopf schüttelte. „Ich habe und ich werde niemals jemanden zu etwas zwingen, was er nicht will. Denk immer daran, bevor du falsche Schlüsse ziehst.“
Colin wurde rot, brachte eine Entschuldigung aber nicht über die Lippen. „Was willst du mir zeigen?“, fragte er stattdessen, was Adrian wissend schmunzeln ließ.
„Den Dachboden.“
Was wollte der
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