Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)

Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)

Titel: Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)
Autoren: Robert Littell
Vom Netzwerk:
neben ihren Geschützen. Augenblicke später kamen wir zu einer ovalen Auffahrt und hielten vor einer einstöckigen, grün gestrichenen Datscha mit unlackierten, weit offen stehenden Holzfenstern. Offenbar wollte jemand die Räume durchlüften. Auf mehreren Fenstersimsen lag Bettzeug ausgebreitet. Lachen Sie ruhig, aber der Gedanke, dass der Genosse Stalin in diesem Bettzeug schlief, ließ mein Herz schneller schlagen. Ein Hauptmann der Wache öffnete eine der hinteren Türen des Zils und führte uns zur Datscha, in der wir eine Reihe großer, halb leerer Räume mit jeweils einem massiven russischen Kachelofen in der Mitte durchquerten. Die Wände waren aus unlackiertem Holz, was mich für den Genossen Stalin freute, verbessert Holz doch bekanntermaßen die Qualität der Atemluft. Am Ende eines schmalen Ganges führte eine Flügeltür in den Konferenzraum der Datscha. Genosse Beria, ein kleiner Mann in NKWD-Uniform und mit einem Monokel im Gesicht, präsidierte am hinteren Ende des großen, schweren Konferenztisches voller Flaschen Borjomi-Mineralwasser und einfacher Wassergläser. Er deutete auf die drei leeren Plätze ihm gegenüber. Einige wichtig aussehenden Genossen saßen an den Seiten des Tisches. Der Einzige, den ich erkannte, war der Ukrainer N. Chruschtschow, dessen Foto jedes Mal in der
Prawda
zu sehen war, wenn die Stadtverwaltung einen neuen Metro-Bahnhof einweihte.
    Jetzt öffnete sich in der Wand hinter Beria eine schmale Tür, die mir vorher nicht aufgefallen war, und ein Mann trat heraus. Er ließ sich schwerfällig auf den Platz links vom Genossen Beria sinken, und ich brauchte einen Moment, bis mir dämmerte, wer dieser Mann war. Es war natürlich der Genosse Stalin selbst, auch wenn er nicht so aussah wie der Stalin auf den Fotografien und Gemälden, die in jedem Büro der Lubjanka hingen. Seine Militäruniform ließ deutlich den Bauch erkennen, der von innen gegen die Goldknöpfe drückte. Sein Gesicht war pockennarbig, die Haut wächsern. Sein linker Arm, der seit seinen revolutionären Aktivitäten vor 1917 teilweise verkrüppelt war (so hieß es allgemein), hing schlaff herunter, die Hand steckte in der Jackentasche, und sein berühmter Schnauzbart war aschgrau. Die Schultern wirkten sorgengebeugt, und ich konnte mir kaum vorstellen, welche Anspannung es bedeutete, auf die barbarische deutsche Invasion in unser Vaterland reagieren zu müssen, hingen doch von jeder Entscheidung Zehntausende Leben ab. (Die stündlichen Bulletins im Radio kündeten von unseren mutigen Soldaten, die an der Westfront ihren Mann standen und die Invasoren sogar um einige Sektoren zurückzudrängen vermochten, doch die langen Gesichter in der Lubjanka, wo die Genossen besser informiert waren als das Volk draußen, sprachen eine andere Sprache. Es war sogar die Rede davon, die Hauptstadt solle aus Moskau in eine Stadt weiter östlich verlegt werden, aber ich konnte nicht glauben, dass es so weit kommen würde.)
    Genosse Stalin nickte ungeduldig dem Genossen Beria zu, der das Wort ergriff. »Sie, Oberst Sudoplatow, und Sie, Hauptmann Gussakow«, sagte er, »haben Oberleutnant Modinskajas Schlussfolgerungen in Bezug auf den 1934 vom NKWD angeworbenen Engländer ab- und gegengezeichnet. Der Genosse Stalin ist persönlich an diesem Fall interessiert und möchte die Schlussfolgerungen von Oberleutnant Modinskaja persönlich hören, aus erster Hand sozusagen.«
    Oberst Sudoplatow stieß mir den Ellbogen in die Rippen. Ich erhob mich und sah dem Genossen Stalin in die Augen. »Hochgeachteter Josef Wissarionowitsch«, fing ich an. (Ich hatte in einem Artikel in der
Prawda
gelesen, dass von Stalins Mitarbeitern erwartet werde, diese kollegialere Anrede zu benutzen, und dachte, es würde einen guten Eindruck machen, wenn ich es tat, ohne dazu aufgefordert zu werden.) »Der Engländer ist zweifellos ein Agent des britischen Secret Intelligence Service und damit Teil des teuflischen Planes, die Moskauer Zentrale zu unterwandern und uns mit Fehlinformationen zu füttern, um unsere Sicht der Dinge zu verzerren und uns der Fähigkeit zu berauben, die Feinde des Sowjetstaates zu bekämpfen.«
    »Beweise«, fuhr mich der Genosse Beria an. »Liefern Sie Beweise.«
    »Ich will mit der Herkunft des Engländers beginnen«, sagte ich. »Sein Vater, Harry St John Philby, ist aktenkundig. In Interviews mit obskuren Zeitschriften und kleinen Zeitungen hat er wiederholt eine christliche Lösung des deutschen Problems gefordert, damit Briten,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher