Philosophenportal
der
Tractatus
ein janusköpfiger Text ist. Hinter den logischen Sprachanalysen und Wahrheitstafeln lugt ein moderner Mystiker hervor. Gerade
weil der
Tractatus
so beharrlich auf dem schmalen Grat zwischen Sagbarem und Unsagbarem, zwischen Rationalem und Irrationalem wandelt, ist er
einer der anregendsten und aufregendsten Texte der Philosophiegeschichte geblieben. Und wenn auch Wittgenstein zu dem Ergebnis
kam, dass man über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens schweigen muss, so hat er in der rationalen Tradition der westlichen
Philosophie doch auch zu begründen versucht, warum dies so ist.
Ausgabe:
LUDWIG WITTGENSTEIN: Tractatus logico-philosophicus. Logischphilosophische Abhandlung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1963.
|194| Aufruf zur Selbstverwirklichung
MARTIN HEIDEGGER: Sein und Zeit (1927)
Was das Auftauchen der Beatles in der Musikszene der sechziger Jahre war, das war das Auftreten des jungen Martin Heidegger
in der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre. Als der dreiundreißigjährige Privatdozent Martin Heidegger 1923 zum außerordentlichen
Professor in Marburg berufen wird, eilt ihm schon der Ruf eines ungewöhnlich erfolgreichen Dozenten und unkonventionellen
Philosophen voraus, der die trockene Akademikerphilosophie über den Haufen geworfen und die Philosophie wieder zum Wesentlichen
zurückgeführt habe. Die Studenten strömten nun in Scharen nach Marburg und hatten das Gefühl, dass hier Philosophie nicht
nur gelehrt, sondern auch praktiziert wurde. Ein neuer Ton und ein neuer Stil waren in die Philosophieszene eingekehrt. Auch
die Fachkollegen hatten nach der Lektüre der wenigen Schriften, die Heidegger entweder veröffentlicht hatte oder zirkulieren
ließ, eine Ahnung, dass hier etwas für die Philosophie Explosives entstand.
Bestätigt wurde diese Ahnung durch das Erscheinen von
Sein und Zeit
. Obwohl das Buch in einer sehr schwierigen und eigenwilligen Sprache geschrieben ist, waren bereits die frühen Leser von
Heideggers Art fasziniert, auf die konkreten Lebensbezüge des Menschen einzugehen. Hier standen keine Kategorien, Prinzipien
oder Gesetze im Mittelpunkt.
Sein und Zeit
wendet sich vielmehr Themen wie »Angst«, »Sorge« oder »Tod« zu, Themen, die aus der akademischen Philosophie längst verschwunden
waren. Was die Leser zuerst erreichte, war die eindringlich vorgetragene Aufforderung, sich von einem gedankenlosen Alltagsleben
zu lösen und die eigene Existenz bewusst und klarsichtig zu gestalten.
Sein und Zeit
war ein auf über |195| vierhundert Seiten angelegter philosophischer Aufruf zur Selbstverwirklichung. Mit diesem Werk, so der allgemeine Eindruck,
hatte die Philosophie wieder begonnen, unmittelbar ins Leben einzugreifen.
Heidegger hatte mit seinem frühen Hauptwerk ursprünglich viel weiter reichende Pläne verfolgt. Er wollte die Metaphysik und
die Ontologie, die Lehre vom Sein und den letzten Gründen der Wirklichkeit, erneuern. Er wollte eine »Fundamentalontologie«
begründen und die Frage nach dem Sein, dem dunkelsten und allgemeinsten Begriff der Philosophie, auf eine neue Art beantworten.
Auf diesem Weg blieb er jedoch bei einem Thema stecken, das zunächst nichts anderes sein sollte als eine Hinführung zum Sein:
dem Thema der menschlichen Existenz.
Sein und Zeit
blieb ein Torso und hatte vielleicht deshalb eine so große Wirkung: Es wurde eine Analyse des Menschen und seines Eingebundenseins
in die Welt, in die Gemeinschaft mit anderen Menschen und vor allem in den Horizont der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit.
Wenn die Leser nach der Lektüre von
Sein und Zeit
auch den Eindruck hatten, aus der philosophischen Enge der Fachdiskussionen und Spezialanalysen herausgeführt worden zu sein,
so haftete dem Menschen Martin Heidegger, seinem Auftreten, seiner Sprache und seinem Werdegang doch immer eine gewisse Provinzialität
an. Heidegger mied nicht nur die Großstadt, er hielt sich überhaupt von der modernen Welt der Technik und der Medien fern.
Außerhalb kleinerer Universitätsstädte wie Freiburg und Marburg hat er nie gewirkt.
Viele seiner Bilder und Vergleiche entnahm er der bäuerlichen, vormodernen Welt seiner südbadischen Heimat. Begriffe wie »Lichtung«
oder »Holzwege« wurden Teil seines philosophischen Sprachgebrauchs. Heidegger liebte es, in Lodenanzügen aufzutreten und mit
den Studenten Ski zu fahren. Nahe bei Freiburg, in Todtnauberg, baute er sich eine Schwarzwaldhütte, in der er,
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