Philosophenportal
musste nun erleben, dass Russell,
wie auch andere Leser, sich in ihrer Lektüre ganz auf das Thema »Logik – Sprache – Welt« konzentrierten und das »ethische« Thema der Lebensprobleme ignorierten. Es war dennoch Russell, der sich
anbot, ein Vorwort zu schreiben, und mit seinem Namen dazu beitrug, dass nach vielen vergeblichen Versuchen die Schrift unter
dem Titel
Logisch-Philosophische Abhandlung
1921 als Zeitschriftenbeitrag erschien. Die englische Übersetzung erhielt auf Vorschlag George Edward Moores den lateinischen
Titel
Tractatus logico-philosophicus
(»Logisch-philosophischer Traktat«), der sich an den im 17. Jahrhundert erschienenen
Tractatus Theologico-Politicus
Spinozas anlehnt und sich inzwischen auch im Deutschen durchgesetzt hat. Inhaltlich haben aber Spinozas und Wittgensteins
Schrift kaum etwas miteinander gemein.
Wittgenstein war der Meinung, mit dem
Tractatus
den Spagat zwischen Logik und Mystik geschafft zu haben. Er hatte seiner Meinung nach geklärt, was man sinnvoll
sagen
und was man lediglich
zeigen
kann. Mehr blieb nicht zu tun. Die Überzeugung, damit das letzte Wort über die Logik, den Sinn der Welt und des Lebens geschrieben
zu haben, äußert er mit dem für ihn charakteristischen Absolutheitsanspruch schon in der Einleitung: »Das Buch behandelt die
philosophischen Probleme und zeigt – wie ich glaube –, dass die Fragestellung dieser Probleme auf dem Missverständnis der Logik unserer Sprache beruht. Man könnte den ganzen
Sinn des Buches |192| etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss
man schweigen ... Dagegen scheint mir die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen
endgültig gelöst zu haben.«
Wittgenstein zog aus dem Nachdenken über die Lebensprobleme auch unmittelbare praktische Konsequenzen. Es war ihm ernst mit
der Absicht, sich moralisch zu reinigen und ein neues Leben zu beginnen. Als der
Tractatus
erschien, hatte er sich weit von dem Milieu der akademischen Philosophen entfernt. Er war den Forderungen Tolstois gefolgt
und hatte sich dem einfachen Leben und dem Dienst am Nächsten zugewandt. Zeitweise arbeitete er als Gärtnergehilfe in einem
Kloster. Von seinem Anteil des väterlichen Vermögens trennte er sich, indem er es an seine Geschwister oder an wenig begüterte
Künstler verschenkte. Russell, bon vivant und Atheist, besuchte Wittgenstein 1922 in Innsbruck und hatte sich auf eine Diskussion
über Logik eingestellt. Doch mit dem von religiösen und ethischen Fragen ganz eingenommenen Wittgenstein konnte er nicht mehr
viel anfangen.
Diese Haltung gegenüber den ethischen und mystischen Absichten des Buches spiegelt sich auch in der Wirkungsgeschichte des
Tractatus
wieder. Das Buch hat auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts einen ungeheuren Einfluss ausgeübt. Ähnlich wie Kants
Kritik der reinen Vernunft
leitete es eine neue Phase in der Philosophiegeschichte ein und verursachte eine Veränderung der philosophischen Blickrichtung.
Doch diese Neuorientierung verblieb ganz im Rahmen des Bemühens, die Philosophie »logischer« und »wissenschaftlicher« zu machen.
Mit der These, dass die Welt immer nur durch den Filter der Sprache erfahrbar ist, hat Wittgenstein eine der größten Revolutionen
in der Philosophie des 20. Jahrhunderts eingeleitet, das, was man im Englischen »linguistic turn« und im Deutschen »sprachphilosophische Wende« nennt.
Die Sprachphilosophie wurde durch Wittgenstein im 20. Jahrhundert zu einer Grundlagendisziplin der Philosophie. |193| So hat die so genannte Sprachanalytische Philosophie Wittgensteins Forderung übernommen, Mehrdeutigkeiten und Unklarheiten
der Sprache aufzuklären oder zu beseitigen.
Im »Wiener Kreis«, einer Gruppe von Philosophen und Wissenschaftlern um Moritz Schlick und Rudolf Carnap, betrachtete man
den
Tractatus
als die Bibel einer neuen »wissenschaftlichen« Philosophie und las ihn Zeile für Zeile. Hier stand die Wiege des Logischen
Positivismus, einer philosophischen Strömung des 20. Jahrhunderts, die nur Aussagen akzeptierte, die eine Grundlage in der Erfahrung sowie eine mathematisch und logisch korrekte
Form haben. Die Bemühung um eine logisch einwandfreie »Idealsprache« hat Wittgenstein selbst später allerdings aufgegeben.
Doch sollte auch nicht vergessen werden, dass
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