Philosophenportal
Vorträge,
aus denen Heidegger schließlich das Manuskript von
Sein und Zeit
herstellte. Am 25. Juli 1924 hatte er vor der Marburger Theologischen |200| Gesellschaft einen Vortrag über den »Begriff der Zeit« gehalten, der wegen seines Umfangs nicht als Aufsatz veröffentlicht
worden war. Heidegger hatte ihn zu einer fünfundsiebzigseitigen Abhandlung erweitert. Im Sommersemester 1925 griff er die
gleiche Thematik in einer Vorlesung unter dem Titel »Geschichte des Zeitbegriffs« wieder auf. Hier sprach er auch zum ersten
Mal Fragen wie »Tod« und »Gewissen« an. In den Semesterferien arbeitete er diese Themen auf seiner Hütte in Todtnauberg in
den Text ein.
Der Durchbruch zu einem umfangreichen Buchmanuskript erfolgte im März 1926. Eine erste Sendung ging im April in den Druck. Weitere Teile arbeitete er im Laufe des Jahres 1926 aus, um sie am 1. November beim Verlag einzureichen. Es blieb ein Rest, darunter eine Auseinandersetzung mit Kant, Descartes und Aristoteles,
der nicht mehr fertig gestellt und in späteren Publikationen verarbeitet wurde. Das Erscheinen des Buches machte den Weg frei
für Heideggers Berufung zum ordentlichen Professor. Die Berufung, die vorher bereits zwei Mal vom Ministerium abgelehnt worden
war, erfolgte schließlich im Oktober 1927.
Wer immer
Sein und Zeit
zum ersten Mal liest, wird sich an Heideggers ungewöhnliche Sprache gewöhnen müssen. Heidegger gehört zu den großen Sprachschöpfern,
aber auch Sprachumformern in der Philosophie. Vertraute Begriffe wie »Dasein« oder »Sorge« erhalten eine völlig neue oder
eine abgewandelte Bedeutung. Oft beruft sich Heidegger dabei auf einen ursprünglichen, etymologisch begründeten Wortsinn.
Aber auch völlig neue Wortprägungen wie das »Man« oder das »Zuhandene« sind eine Herausforderung für den Leser. Kein wichtiger
Begriff, den Heidegger verwendet, sollte in seiner normalen Alltagsbedeutung verstanden oder vorausgesetzt werden.
Sein und Zeit
beginnt mit der Frage nach dem »Sinn von Sein«, eine Frage, die das Buch letztlich nicht beantworten wird. Das Sein als die
Grundlage der Wirklichkeit ist nach Heidegger nicht, wie von den meisten Philosophen geglaubt, ein »Seiendes«, das heißt eine
beschreibbare und definierbare Sache. Dennoch führt der Weg zu diesem Sein über das Seiende, allerdings über ein ganz besonderes
Seiendes, nämlich den Menschen. Der Mensch ist für Heidegger die |201| Brücke zum Sein, weil er das einzige Wesen ist, das die Frage nach dem Sein stellt, weil er ein »Seinsverständnis« hat und
deshalb über den bloßen Status als Ding oder Sache hinausreicht. Der Mensch hat von daher eine besondere Seinsweise, die Heidegger
»Dasein« nennt. Die Untersuchung oder, wie Heidegger sagt, die »Fundamentalanalyse des Daseins« ist das eigentliche Thema
von
Sein und Zeit
geworden.
Mit dem »Dasein« kommt auch der vielleicht berühmteste Begriff von
Sein und Zeit
ins Spiel: die »Existenz«. Existenz ist für Heidegger nicht nur einfach die Tatsache des Lebens oder Existierens. Sie ist
vielmehr die Verbindung zwischen dem Dasein und dem Sein. Der Begriff ist bei Heidegger in seinem ursprünglichen lateinischen
Wortsinn zu verstehen. »Ex-sistere« heißt wörtlich »herausstehen«. Der Mensch ragt aus der normalen Welt der Dinge dadurch
heraus, dass er ein Verhältnis zum Sein entwickeln kann. Existenz ist ein bewusstes, erfülltes, dem Sein zugewandtes Dasein.
Heidegger will hier in der Tat einen neuen, revolutionären Weg gehen. Er will das Sein nicht »hinter« den Dingen oder »außerhalb«
der Dinge suchen, sondern in einem bestimmten Vollzug des menschlichen Lebens, in der Art, wie der Mensch seine Existenz gestaltet.
Von dem »Sein des Daseins« her soll dann der »Sinn von Sein« insgesamt erschlossen werden.
Was dem Leser letztlich als Gesamtdarstellung vorliegt, sind zwei große Abschnitte dessen, was Heidegger ursprünglich als
ersten Teil vorgesehen hatte: In der »vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins« wird die alltägliche Art analysiert,
wie der Mensch in der Welt lebt. Im zweiten Abschnitt, betitelt »Dasein und Zeitlichkeit«, geht es darum, wie der Mensch vor
dem Hintergrund der Zeit seine Existenz verwirklichen, wie er sich dem Sein zuwenden kann. Ein ursprünglich vorgesehener dritter
Abschnitt, der die Schlussfolgerung dieser Analysen unter dem Titel »Zeit und Sein« enthalten sollte, fehlt. Ebenso fehlt
ein
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