Philosophenportal
seinem kulturellen Schaffen heraus »verstanden« werden müsse. Bergson, einer der damals populärsten
Philosophen Europas, untersuchte unter anderem die unterschiedlichen Formen, in denen wir »Zeit« erleben. Heidegger las aber
auch den |198| damals nur wenigen bekannten dänischen Theologen Sören Kierkegaard, der in seiner Schrift
Der Begriff Angst
die menschliche Freiheit mit der Grundstimmung der Angst in Verbindung gebracht und den Menschen aufgefordert hatte, durch
eine grundsätzliche Wahl seiner Existenz einen Sinn zu geben.
Heideggers Hinwendung zu konkreten Phänomenen der menschlichen Existenz wurde durch die Zeitstimmung nach dem Ersten Weltkrieg
befördert, die von Krisenbewusstsein, geistiger Orientierungssuche und Aufbruchsenthusiasmus geprägt war. Existenz- und Entscheidungsfragen
standen überall auf der Tagesordnung. Schon in der Vorkriegszeit hatte er mit den Jugendbewegungen sympathisiert, die für
Natürlichkeit, Authentizität und Abkehr von starren gesellschaftlichen Formen eintraten und nicht nur eine Erneuerung der
gesellschaftlichen Institutionen, sondern auch eine »Lebensreform« des Einzelnen anstrebten.
So wurde Heidegger zu einem Phänomenologen besonderer Art. Von Husserl hatte er den Anspruch übernommen, den Zugang des Menschen
zur Welt von Grund auf, von seinen ursprünglichen Bedingungen her zu untersuchen. Doch nicht das Bewusstsein wird für ihn
der Untersuchungsgegenstand, sondern die Lebenswelt, das normale, alltägliche Leben des Menschen. Auf diese Lebenswelt richtete
er seine ganz eigene Art des Philosophierens, die ihn schon als jungen Dozenten in Freiburg berühmt machte.
Die Studenten nannten ihn den »Zauberer von Meßkirch«, weil er philosophische Fragen an der Wahrnehmung alltäglicher Dinge
entzünden konnte. So begann Heidegger, vor seinen Studenten über die Wahrnehmung des Katheders zu reden,und versuchte zu erklären,
dass Betrachter und Gegenstand Teil einer gemeinsamen »Umwelt«, eines Beziehungsgeflechts von Gegenständen sind. Erst aus
dieser Verflechtung heraus lässt sich die »Bedeutung« der Gegenstände erkennen. Was bei Husserl die Verklammerung von Subjekt
und Objekt im Bewusstsein war, wurde bei Heidegger zu einer Verklammerung des Menschen mit den Dingen in einer gemeinsamen
Umwelt.
Deshalb ist die Welt, die wir wahrnehmen und in der wir leben, so |199| Heideggers Erkenntnis, in einem ganz unmittelbaren Sinn immer die Welt des Menschen. Welt und Mensch stehen sich nicht gegenüber.
Der Mensch ist immer schon Teil der Welt. Die großen Philosophen hatten die Wirklichkeitsgrundlagen dieser Welt immer in einem
unveränderten »Sein« gesucht, in Ideen, Prinzipien, Kategorien. Angeregt von Bergson versuchte Heidegger nun, dieses »Sein«
auf eine ganz neue Grundlage zu stellen. Diese neue Grundlage bestand in der »Zeit«. Da die Zeit aber mit Veränderung verbunden
ist, konnte auch das Sein nicht mehr in unveränderlichen Prinzipien gesucht werden.
Als Heidegger 1923 als außerordentlicher Professor nach Marburg berufen wird, beginnt für ihn philosophisch und privat die
aufregendste Zeit seines Lebens. 1924 lernt er die junge Philosophiestudentin Hannah Arendt kennen, die für einige Zeit seine
Geliebte wird. Mit seinem Kollegen Karl Jaspers in Heidelberg bildet er eine »Kampfgemeinschaft«, die die akademische Philosophie
mit einem neuen Stil und neuen Themen herausfordern will. Heidegger lebt zeitweise beflügelt, in einem kreativen Rausch.
Als Ergebnis dieser höchst produktiven Lebensatmosphäre begann das Werk konkrete Gestalt anzunehmen, mit dem er vom Geheimtipp
zum deutschen Philosophenkönig aufsteigen sollte. Das Projekt von
Sein und Zeit
entwickelte sich aus Heideggers eigenständiger Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls, aber auch angeregt durch
die Stimmungen und Lebensfragen der Epoche.
Den letzten Anstoß zur Abfassung des Werks gab jedoch die Universität selbst. Seit 1925 war die Stelle eines ordentlichen
Philosophieprofessors in Marburg neu zu besetzen. Heidegger schien die selbstverständliche erste Wahl zu sein. Doch um eine
positive Entscheidung des Kultusministeriums zu erhalten, musste er zumindest eine wichtige Veröffentlichung vorlegen. Seit
1916 seine Habilitationsschrift erschienen war, hatte er kein einziges Werk publiziert.
Es waren die Unterlagen zu seinen Lehrveranstaltungen, ausgearbeitete Vorlesungen und für die Universität verfasste
Weitere Kostenlose Bücher