Philosophenpunsch
Jäger nickte stumm. Die Erinnerung an jene Zeit lebte wieder in ihm auf. Er konnte nicht sagen, ob er seinen Vater jemals verstanden hatte. Aber konnte er nicht wenigstens einmal in seinem Leben so sein wie er?
»Du warst enttäuscht, euer Kontakt ist schnell abgebrochen«, redete Bernhard Klein ungeniert weiter. »Trotzdem ist er dein großes Vorbild geblieben. Veronika gegenüber wolltest du gestern dieser starke Mann sein, das hat man die ganze Zeit deutlich gesehen. Dann warst du mit ihr allein, hattest deine große Chance – und hast versagt. Das muss dich tief ins Mark getroffen haben. Da bist du zur Tat geschritten.«
»Es war eine unheilschwangere Nacht«, bemerkte Bianca Roth kryptisch. »Die meisten Dinge im Leben sind vorgezeichnet. Botschaften von überall können uns erreichen, von den Lebenden, wie weit weg sie auch gerade sind, und von den Toten. Vieles, was wir tun, geschieht ohne unseren eigentlichen Willen.«
»Ja, seid ihr denn alle übergeschnappt? Wollt ihr mir diesen Mord andrehen?«, geriet Jäger jetzt total außer sich. »Aber ihr könnt tun, was ihr wollt. Euch fehlen die Beweise.«
Jetzt wurde auch Korber, der sich nach Leopolds stummer Zurechtweisung bemerkenswert lange zurückgehalten hatte, wieder aktiv. »Du hast gestern einen Schal mitgehabt. Was ist eigentlich aus dem geworden?«, fragte er Jäger.
Jäger überlegte. Er durfte keinen Fehler mehr machen. Er musste diese Sache, seine Sache, durchziehen. Warum fiel es ihm so schwer, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden? Konnte der Schal den Verdacht auf ihn lenken oder nicht? Seine Mutter hatte gemeint, nein, aber das war ihm jetzt keine Hilfe. Er war darauf angewiesen, sich selbst zu helfen.
»Ich habe ihn Veronika gegeben«, antwortete er. »Ihr war kalt. Ich wollte nicht, dass sie friert.«
»Für dieses kurze Stück Weg? Und du hast ihn dir nicht zurückgeben lassen?«, bohrte Korber weiter.
»Nein, das wäre mir nicht im Traum eingefallen. Und hört jetzt bitte auf mit diesen albernen Fragen und grundlosen Verdächtigungen. Ich habe Veronika vor der Schule verlassen. Dass sie dann vorhatte, zu dir zu gehen, lieber Bernhard, ist ein offenes Geheimnis. Warum sie später ein paar Schritte weiter hinten, auf dem kleinen Vorplatz, gelandet ist, weiß ich nicht. Sie muss wohl irgendwo ihrem Mörder begegnet sein.«
»Wie oft vermischt sich die Wahrheit mit der Fantasie. Ich glaube, du verheimlichst uns etwas, Franz«, kam wieder Biancas düstere Stimme. Ihre Augen waren weit geöffnet, und sie blies den Zigarettenrauch genussvoll in die Luft.
»Ich sage nichts mehr«, brauste Jäger auf. »Nur so viel: Veronika ist an diesem Abend einige Male angepöbelt worden. Hier im Kaffeehaus habt ihr es selbst alle mitbekommen. Schon vorher hat sie vor dem Heller eine Auseinandersetzung mit dem Tierschützer gehabt, der am Anfang ein paar Mal mit ihr mit war. Das ist euch offensichtlich egal. Hauptsache, ihr habt einen Schuldigen gefunden.«
»Aber so war es doch nicht gemeint, Franz«, versuchte Gernot Stolz, ihn zu beruhigen.
»Wie war es denn gemeint? Ihr braucht einen Dummen, aber da spiele ich nicht mit. So tun, als ob man geistig über allen Dingen stünde, aber bei der nächstbesten Gelegenheit einem anderen das Hackl ins Kreuz hauen. Das schaut euch ähnlich. Vergesst mich!«
Franz Jäger war immer noch überaus erregt, seine Augen funkelten. Es sah jetzt wirklich so aus, als würde er jeden Augenblick einen der am Tisch Sitzenden, vorzugsweise Bernhard Klein, packen und ihm eine Tracht Prügel verabreichen wollen. Aber gleich darauf wirkte er wieder seltsam desinteressiert und gleichgültig, so, als ob ihn das alles nichts anginge. Er redete nichts mehr, und es schien ihm egal zu sein, was die anderen redeten. Er verfolgte das, was sie des Weiteren besprachen, aus einer Art innerer Emigration heraus. Franz Jäger war nicht mehr Teil dieser Runde. Man musste sich ernsthaft die Frage stellen, ob er es überhaupt je gewesen war.
*
Die Philosophen verließen das Heller unter Anführung aller möglichen Beweggründe diesmal schon früh. Korber lehnte wieder vorn an der Theke. »Jetzt habe ich mir aber wirklich ein Bier verdient«, rief er Leopold zu.
»Weil du dich ausnahmsweise zusammengerissen hast, nachdem ich dir den Stesser gegeben habe? Was wäre gewesen, wenn ich nicht zufällig vorbeigekommen wäre? Du warst schon wieder ganz schön in Fahrt.«
»Ja, aber immerhin war ich dann ausgesprochen friedlich und
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