Pilger des Zorns
Vater, dass das Vertrauen, mit dem Ihr Uns geehrt habt, auf schmähliche Weise missbraucht worden ist. Worum es geht, ist dies: Die drei Ketzer böhmischer Herkunft, welche an Uns überstellt worden sind, haben uns erhebliches Ungemach bereitet. Wie Eminenz sich gewiss entsinnen können, handelt es sich dabei um Anhänger des am 6. Julius im vergangenen Jahr zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilten Jan Hus aus Prag. Einer von ihnen, Jan Hlavá č ek mit Namen und 22 Lenze alt, hat es mit des Leibhaftigen Hilfe doch tatsächlich zuwege gebracht, sich Gottes gerechter Strafe durch Flucht aus dem Kerker zu entziehen. So auch sein 38-jähriger Mentor, Sozius des besagten Hus, dessen Wir allerdings nach kurzer Zeit wieder habhaft werden konnten. Leider trifft dies auf dessen Sohn, 16-jährig und ebenfalls flüchtig, nicht zu. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat er sich jenem Hlavá č ek angeschlossen, dem gegenüber er eine brüderliche Zuneigung zu hegen scheint.
Bedauerlicherweise war das Ungemach, welches Uns sein Vater bereitet hat, damit noch nicht ausgestanden. Besaß er doch die Stirn, sich der von Uns angeordneten peinlichen Befragung dadurch zu entziehen, indem er Hand an sich zu legen versuchte. Doch ward diesem Unterfangen kein Glück beschieden, woraufhin er auf Unser Drängen hin vom hiesigen Bischof nach Burg Rothenfels verbracht und ebendaselbst eingekerkert worden ist.
Dies alles ist wahrlich schon schlimm genug, fast so schändlich wie das Versagen des von Uns mit der Überwachung der drei Ketzer beauftragten Bruders, seines Zeichens Sakristan des hiesigen Konventes. Nach Aussage der Klosterknechte soll besagter Bruder Malachias nämlich in einer Weise mit den Delinquenten umgesprungen sein, die den von der Heiligen Inquisition festgesetzten Statuten völlig zuwiderläuft. Die Flucht des 22-jährigen Hlavá č ek und jenes unreifen Knaben, für die er die volle Verantwortung trägt, gar nicht zu erwähnen. Dies ist denn auch der Grund, weshalb Wir es für unsere Pflicht hielten, Bruder Malachias auf das Strengste zu ermahnen und einstweilen mit anderen Aufgaben zu betrauen. Zumal dies anscheinend nicht das erste Mal ist, dass er sein Gelübde gebrochen und den ihm auferlegten Pflichten zuwidergehandelt hat. Dies zumindest haben die von Uns angeordneten Verhöre und Aussagen mehrerer Mitbrüder ergeben.
Möge Eminenz Uns daher Rat und Weisung erteilen, wie mit Bruder Malachias zu verfahren ist. Dies umso mehr, als dass Uns ein schweres Fieber seit Wochen ans Krankenlager gefesselt und Uns die Erfüllung Unserer Amtspflichten nahezu unmöglich gemacht hat.
Wollet daher, hochwohlgeborene Eminenz, Euch des hiesigen Konventes annehmen und Uns, seinem Prior, Eure Unterstützung und väterlichen Rat nicht versagen.
Laurentius, Prior
DIES SECUNDUS
Tag der Himmelfahrt Mariens
(15.8.1416)
NACH PRIMA
Worin sich in dem Flecken MARKTHEIDENFELD ein weiterer Passagier zu den Reisenden auf der ›CHARON‹ hinzugesellt.
»Lieber Richwyn – falls ich Euch überhaupt so nennen darf: Bei diesem Lärm wäre sogar ein Toter aufgewacht! Das steht doch wohl fest. Und zwar ohne Wenn und Aber!«
Der Spielmann zeigte mit dem Daumen über die Schulter und blickte stur geradeaus. »Nichts für ungut, Bruder – die Luft da drin war mir einfach zu dick! Da habe ich meine Siebensachen geschnappt und die Nacht im Freien verbracht. Als Spielmann ist man das ja wohl gewohnt.«
»Wenn dem so war, müsst Ihr geruht haben wie in Abrahams Schoß.«
Richwyn packte seinen Haarschopf, band ihn zu einem Pferdeschwanz zusammen und rümpfte die Nase. »Ist das etwa der Dank, dass ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt habe, um Euch wachzukriegen?«
»Das habt Ihr gewiss. Wenn auch reichlich spät.« Bruder Hilpert schloss die Augen und seufzte. »Aber lassen wir das. Schließlich gibt es weit wichtigere Dinge für uns zu tun.«
»Und die wären?«
Auf den Vordersteven gestützt, an dem die erloschene Positionslaterne hing, atmete Bruder Hilpert tief durch und ließ den Blick über die morgendliche Flusslandschaft gleiten. Sein Mund war wie ausgedörrt, der Atem schal und herb. Die Schrecken der vergangenen Nacht saßen ihm immer noch in den Knochen. Insbesondere jener Traum, der ihn einfach nicht loslassen wollte.
Angesichts der Idylle, die der Rumpf der ›Charon‹ durchpflügte, erholte er sich jedoch im Nu. Es war kurz nach Sonnenaufgang, und
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