Pilger des Zorns
›quicklebendig‹ ist unter den gegebenen Umständen doch wohl das falsche Wort«, presste der Kapitän hervor.
»Ach ja? Und welches wäre Eurer Meinung nach das richtige?«
Der Kapitän biss sich auf die Lippen und fuhr mit dem Handrücken über die Stirn. Er war blass, keine Frage. Und sichtlich mitgenommen. Wenn auch nicht so, dass ihm Bruder Hilpert seine Auferstehung ohne Weiteres abgekauft hätte. »Erleichtert«, erwiderte er, während seine Linke die leere Dolchscheide abtastete. Bruder Hilpert tat so, als habe er dies nicht bemerkt, stellte sich jedoch die Frage, wo das Corpus Delicti abgeblieben war. Bei dem Dolch, mit dem Roslinde über den Pilger hergefallen war, hatte es sich um denjenigen des Kapitäns gehandelt. Blieb die Frage, in wessen Händen er sich derzeit befand. Eine Frage, auf die er einstweilen keine Antwort wusste.
»Genau: erleichtert«, wiederholte der Kapitän nach längerem Schweigen. Dann hellte sich seine Miene auf. »Und dankbar. Dankbar, dass meine Gebete erhört worden sind.« Und er fügte mit reichlicher Verspätung, dafür aber umso mehr Genugtuung hinzu: »Endlich.«
In Bruder Hilperts Ohren klang diese Äußerung fast wie Hohn, und er machte auch keinen Hehl daraus. »Woher dieser plötzliche Sinneswandel?«, fragte er unverblümt. »Wenn mich nicht alles täuscht, scheint Ihr für unseresgleichen nicht besonders viel übrig zu haben.«
»Mag sein. Was jedoch nicht heißt, dass das Wort Gottes für mich nicht zählt. Ganz im Gegenteil. Das tut es, wenn auch auf gänzlich andere Weise als für Euch.«
»So? Da bin ich aber gespannt!«, ergriff Bruder Hilpert die Gelegenheit am Schopf, setzte sich an den Tisch und sah den Kapitän mit gespielter Neugierde an. »Nur zu. Ich bin ganz Ohr. Wer weiß, vielleicht lerne ich noch etwas dazu.«
Auf einmal wurde der Kapitän kreidebleich. Ob aus Verlegenheit oder seiner Schusswunde wegen, war Bruder Hilpert nicht klar. Klar war indessen nur eins: Die Verletzung des Kapitäns war offenbar längst nicht so schlimm wie gedacht. Hinzu kam, dass sein Patient ausgesprochen zäh zu sein schien. Oder, weitaus wahrscheinlicher, darauf aus, ihn in die Irre zu führen.
»Das wohl kaum«, entgegnete der Kapitän und machte Anstalten, sich zu erheben. Das gelang ihm mehr schlecht als recht, und bevor es so weit war, stand Bruder Hilpert vor ihm und drückte ihn mit sanfter Gewalt auf die Koje zurück. Dann machte er einen Schritt rückwärts, verschränkte die Arme und blickte mit gestrenger Miene auf seinen Patienten herab. »Wenn Ihr mir etwas zu sagen habt, dann am besten gleich!«, forderte er den Kapitän eindringlich auf. »Bevor die Dinge hier an Bord aus dem Ruder laufen.«
Der Kapitän rückte seine Augenklappe zurecht und spielte den Desinteressierten. »Ich wüsste nicht, weshalb«, ließ seine Antwort nicht lange auf sich warten. »Insbesondere nicht, was Euch das angeht, Bruder. Bei aller Dankbarkeit, zu der ich Euch gegenüber verpflichtet bin.«
»Ein Wort der Anerkennung – wie schön. Wenn auch nicht das, was man von Euch unter den gegebenen Umständen hätte erwarten können.«
Das Gesicht des Kapitäns verformte sich zu einer übellaunigen Grimasse. »Und das wäre?«, fuhr er Bruder Hilpert an und hangelte sich an einem Stützbalken in die Höhe. »Könnt Ihr mir das freundlicherweise erklären?«
»Gegenfrage: Könnt Ihr mir versichern, dass die gegen Euch erhobenen Anschuldigungen jeglicher Grundlage entbehren – ja oder nein?«
Der Kapitän grinste breit. »Wie bitte? ›Anschuldigungen‹? Ganz ehrlich: Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Ihr …«
»Und ob Ihr das habt. Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr Eure Ohnmacht nur vorgetäuscht und sämtliche Anwesende inklusive meiner Wenigkeit zum Narren gehalten habt?«
»Soll das etwa ein Verhör werden? Und überhaupt: Warum sollte ich so etwas tun?« Ganz der Alte, schwoll die Zornesader auf der Stirn des 22-jährigen Cholerikers bedrohlich an. »Und was ist mit meiner Wunde?«, grollte er. »Alles Theater, oder was? Abgekartetes Spiel?«
»Mitnichten«, antwortete Bruder Hilpert ungerührt. »Wobei ich mich frage, weshalb die Reisigen des Bischofs darauf aus waren, die ›Charon‹ mit derart rüden Methoden an der Weiterfahrt zu hindern. Selbst auf die Gefahr hin, dass sie auf Grund laufen würde. Oder dass die Passagiere dabei Schaden erleiden könnten. Von der Ladung, die um ein Haar verloren gegangen wäre, ganz zu schweigen.« Bruder
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