Pilger des Zorns
Mädchens, das beim Anblick des Emicho genannten Jakobspilgers in eine derartige Raserei verfiel, dass ich sie nur mit Mühe davon abhalten konnte, besagtem Badstuber mithilfe eines Dolches nach dem Leben zu trachten. Dies alles, nicht zuletzt die Schusswunde, die dem Kapitän von einem Reisigen zugefügt wurde, hält mich einigermaßen in Atem. Zwar ist außer ihm noch niemand an Bord wirklich zu Schaden gekommen, doch hege ich die Befürchtung, dass dies nicht so bleiben wird. An Bord dieses Schiffes braut sich etwas zusammen, das spüre ich mehr denn je. Und so sehe ich dem weiteren Verlauf der Reise und insbesondere der kommenden Nacht mit wachsendem Unbehagen entgegen, in der Hoffnung, Gott der Herr möge mein inständiges Flehen erhören und die Reisenden an Bord von dem Fluch lösen, der über unseren Häuptern zu schweben scheint.
Dein Freund Hilpert, der Dich bereits jetzt schmerzlich vermisst.
Gegeben zu Wertheim am Tage der Himmelfahrt Mariens Anno Domini 1416.
MITTAGSLÄUTEN
Worin die Reihe mysteriöser, nachgerade unerklärlicher Vorfälle an Bord der ›CHARON‹ nicht abzureißen scheint.
Schon wieder ein Pfaffe. Einer von der asketischen Sorte. Klugscheißer. Hager, grauhaarig und wachsam wie ein Luchs. Zisterzienser. Ein Mann, um den man einen Bogen machen sollte.
Ein Pfaffe. Einfach zum Verrücktwerden. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
Fast schon in Reichweite des Fallreeps, war er kurz davor, es sich noch einmal anders zu überlegen. Beim Anblick des Schiffes mit dem höchst ungewöhnlichen Namen hatte er einfach ein ungutes Gefühl. Zum einen wegen dieses Zisterziensermönches, der diesem Hilfsvogt einen Brief in die Hand gedrückt und ihn beiläufig gemustert hatte. Beiläufig zwar, aber auf eine Art, dass ihm sofort mulmig wurde. Mit diesem Kuttenträger würde es noch Ärger geben. Das war ihm vom ersten Moment an klar.
Und da war noch etwas. Ein treuer Gefährte, der ihn nur selten im Stich gelassen hatte – sein Instinkt. Und der riet ihm, er solle möglichst schnell Fersengeld geben. Nicht zuletzt wegen dieses Zisterziensers.
Der Koloss mit der Jakobsmuschel auf der Hutkrempe kratzte sich am Kinn. Seiner grimmigen Miene zum Trotz saßen ihm die Stadtknechte immer noch im Nacken. Kein Zweifel, die würden ihm auf den Fersen bleiben. Was dieses Großmaul vorhin vom Stapel gelassen hatte, war keine leere Drohung gewesen. Die Kurve kratzen – oder Kerker.
So einfach war das.
Einfach zwar, aber nicht einfach genug. Das Gefühl, vom Regen in die Traufe zu geraten, wurde er trotzdem nicht los. Daran zu ändern gab es freilich nichts. Also nichts wie weg. Sonst würde es Ärger geben. Und davon hatte er genug am Hals.
Der stiernackige Hüne umklammerte seinen Stab und steuerte auf das Fallreep der ›Charon‹ zu. Im gleichen Moment ertönte das Mittagsläuten, das hieß, seine Frist lief unwiderruflich ab.
Höchste Zeit für ihn.
Da heute Feiertag war, herrschte auf dem Kai kaum Betrieb. Und außerdem war es verdammt heiß. Der Koloss fluchte leise vor sich hin. Gegen einen Krug Wein hätte er nichts einzuwenden gehabt. Doch waren sämtliche Schenken geschlossen, keine Marktstände, ja nicht einmal ein Wasserverkäufer zu sehen. Ein Rattenfänger, Stapelware, Fischgräten und verfaulter Kohl. Sonst nichts. Außer einem Floß, das Bauholz geladen hatte, einem halben Dutzend Fischerboote und dem Schiff mit dem merkwürdigen Namen.
Und diesem Zisterziensermönch, der sich auf die Reling stützte, aufrichtete und ihm einen prüfenden Blick zuwarf. Ein Glück, dass dieser Pfaffe nicht der Einzige hier ist, dachte der Koloss erleichtert und sah sich nach allen Seiten um. Zwei Weibsleute, die am Kajütenfenster hingen. Ein herumstreunender Vagant, zumindest dem Aussehen nach. Der Zisterzienser mit dem durchdringenden Blick. Ein Schiffsjunge, der am Rahsegel herumhantierte. Und natürlich der Kapitän, der ihn mit wachsamem Blick begutachtete, sich mühsam aufrappelte und das Achterdeck verließ, um seinen Obolus zu kassieren. Der Jakobspilger öffnete seine Geldbörse, kramte ein paar Pfennige hervor und ging ihm entgegen. Nicht gerade vertrauenerweckend, dachte er, als er ihn mit seinem Blick taxierte. Der Kerl sah wie ein Galgenvogel aus. Und vielleicht war er ja auch einer. So genau konnte man das nie wissen.
»Wohin des Weges?«, lautete die frostige Begrüßung, woraufhin er mit dem Gedanken spielte, sich lieber nach einem anderen Schiff umzusehen. Ein Vorhaben,
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