Pilger des Zorns
Über das Für und Wider der Verhaftung von Jan Hus. Was mich zu der Frage bringt, ob es eine Verbindung zwischen jenem der Ketzerei bezichtigten Universitätsrektor und den beiden wackeren Seeleuten auf dem Achterdeck gibt. Von denen zumindest der Kapitän des Tschechischen mächtig zu sein scheint.«
»Ad vier: Verlieren wir uns nicht in Spekulationen.«
»Wie recht du doch hast, mein Freund. Dann also weiter im Text.« Bruder Hilpert raufte sich die Tonsur. »Fünftens – mithin der beklemmendste Punkt: Obwohl Frau Liutgard behauptet, mit ihrer Nichte auf Pilgerfahrt zu sein, ist bei ihr in puncto Frömmigkeit wenig zu spüren. Auch hier das gleiche Bild. Bezüglich ihrer Identität scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen. Würde mich nicht wundern, wenn die beiden Mutter und Tochter sind.«
»Konkrete Anhaltspunkte?«
»Leider nein.«
»Nicht gerade ermutigend.«
»Stattgegeben.« Bruder Hilpert erhob sich und ging auf dem Vorderdeck auf und ab. Das Rahsegel blähte sich im Wind, und die ›Charon‹ steuerte in die undurchdringliche Finsternis hinein. Ab und zu lief ein schwaches Zittern durch das Schiff, und wenn es durch ein Wellental steuerte, schoss am Vordersteven eine Gischtfontäne empor. Der Himmel war bedeckt, die Sterne hinter einem Wolkengebirge verschwunden. Die Nacht überdies so dunkel, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Und das trotz der Positionslaternen am Bug. Ein Wunder, dachte Bruder Hilpert nervös, dass dieses Schiff nicht schon längst auf Grund gelaufen ist.
Berengar war offenbar der gleichen Meinung, worüber die Miene, die er aufsetzte, beredt Zeugnis ablegte. »Diese Nichte oder wer auch immer – wie alt ist sie eigentlich?«
»15.«
»Folglich noch ziemlich jung.«
»Doch alt genug, um schlechte Erfahrungen gemacht zu haben.«
»Als da wären?«
»Gute Frage.« Bruder Hilpert stieß einen Schwall Atemluft aus. »Gleichwohl: Betrachtet man ihr Verhalten, drängt sich der Eindruck auf, ihr müsse etwas Schreckliches widerfahren sein. So schrecklich, dass es ihr die Sprache verschlagen hat. In ihrer Haut stecken wollte ich jedenfalls nicht. Armes Kind – zutiefst zu bedauern.« Bruder Hilpert pausierte und wies mit dem Kinn in Richtung des Schlafzeltes, in dem soeben eine Laterne entzündet worden war. »Gut möglich, dass ihre Malaise etwas mit unserem Freund Malachias zu tun hat.«
»Mit wem auch sonst.« Berengar strich durch sein dichtes schulterlanges Haar. »Ein prall gefülltes Sündenregister!«, stieß er unwirsch hervor. »So rappelvoll, dass der Leibhaftige vor Neid erblassen würde. Und nichts in der Hand gegen ihn. Einfach zum Verrücktwerden.«
»Es sei denn, es gelingt uns, ihn zu überführen.«
»Und wie?«
»Indem wir das Geld finden. Irgendwo hier an Bord muss es ja wohl sein.«
»Schon jetzt viel Spaß bei der Suche«, grummelte Berengar missvergnügt vor sich hin.
»Ergebendsten Dank.« Bruder Hilpert trat an die Reling, stützte die Hände darauf und versank in tiefes Brüten. »Möchte wissen, weshalb die drei Herren auf dem Achterdeck seit geraumer Zeit die Köpfe zusammenstecken!«, murmelte er, nachdem ihn das Knarren des Ruders aus den Gedanken gerissen und seine Aufmerksamkeit auf den Kapitän, Jobst und den Komtur gelenkt hatte. »Das bedeutet sicherlich nichts Gutes.«
»Und wenn schon – uns beide kann doch sowieso nichts mehr erschüttern.«
»Eigentlich nicht, du hast recht.« Bruder Hilpert verließ seinen Platz an der Reling, setzte sich und starrte trübsinnig vor sich hin. »Fakt ist, dass etliche unserer Mitreisenden mit unserem Freund Malachias eine Rechnung zu begleichen haben«, raunte er Berengar zu.
»Welche genau, ist allerdings die Frage.«
»Exakt.« Bruder Hilpert rieb die Handflächen aneinander und warf einen Blick nach oben. »Sieht nach schlechtem Wetter aus«, murmelte er und warf einen neuerlichen Blick zum Heck, wo der Kapitän, Jobst und der Komtur immer noch dicht gedrängt beieinanderstanden. Von Richwyn, den beiden Frauen und Malachias, der immer noch im Zelt herumhantierte, nach wie vor keine Spur.
»Wenn schon, denn schon!«, erklärte Berengar in einem Anflug von Galgenhumor. »Langweilig wird es uns heute Nacht sicherlich nicht werden.«
»Nein, ganz bestimmt nicht.« Von Unruhe gepackt, hielt es Bruder Hilpert nicht mehr auf dem Mehlsack, den er zum Sitz auserkoren hatte. »Dies irae, dies illa! [19] «, sprach er mit nachdenklicher Miene und wandte sich zum Bug. Die Positionslaterne
Weitere Kostenlose Bücher