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Pilger des Zorns

Pilger des Zorns

Titel: Pilger des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Klausner
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Malachias getötet hatte, war damit jedoch nicht zufrieden gewesen. Er oder sie musste einen unbändigen Hass auf den Sakristan gehabt haben, sonst, so Hilperts beklemmender Schluss, hätte er dem Leichnam nicht auch noch das Geschlecht abgetrennt.
    Kein Mord also, sondern ein Abschlachten. Doch das war längst noch nicht alles. Was Bruder Hilpert am meisten irritierte, weit mehr als alle bisherigen Fälle zusammen, war etwas anderes. Etwas so Bizarres, dass es ihm den Atem verschlug. Um zu begreifen, was er da sah, benötigte er viel Zeit, und selbst dann, als er in dem zu Füßen des Leichnams kauernden Wesen Rosalinde erkannt hatte, konnte und wollte er es immer noch nicht glauben.
    Das Mädchen hatte ihn nicht bemerkt. Und würde ihn auch nicht bemerken. Bruder Hilpert hätte es rütteln, laut seinen Namen rufen oder schreien können – der Effekt wäre der gleiche gewesen. Die dunkelhaarige Schönheit, die ihr Haar streng gescheitelt trug, reagierte nicht auf ihn. Weder auf gutes Zureden noch ihren Namen. Genau genommen reagierte sie überhaupt nicht. Bruder Hilpert lief es eiskalt über den Rücken. Es war ein Anblick, bei dem einem das kalte Grausen kam. Wenn, dann nur mit Mühe zu ertragen.
    Liutgards Schützling trug immer noch dasselbe Kleid, schlicht, weiß und mit Goldfäden durchwirkt. Im Gegensatz zum Vortag jedoch keine Schuhe. Bei näherem Hinsehen zuckte Bruder Hilpert plötzlich zusammen.
    An den Fußsohlen des Mädchens klebte Blut. Weshalb, war nicht schwer zu erraten.
    Das Merkwürdigste, um nicht zu sagen Beklemmendste, sollte jedoch noch kommen. Unmittelbar neben der riesigen, im Schein der aufgehenden Sonne purpurrot schimmernden Blutlache postiert, gab es seine stocksteife Haltung plötzlich auf. Wippte im Schneidersitz hin und her, öffnete den Mund und begann stoßweise zu atmen. Kaum in Bewegung, wurde ein Keuchen daraus. Dann ein Röcheln. Und dann riss Rosalinde den Kopf in die Höhe und stieß eine Reihe unartikulierter Laute aus. Bruder Hilpert war völlig perplex. Wahrhaftig, so etwas hatte er noch nie erlebt. In all den Jahren seines Mönchsdaseins nicht.
    Nun war es also doch passiert. Malachias war tot. Ermordet. Die Frage war nur, von wem. Dass dieses Mädchen etwas damit zu tun hatte, konnte sich Bruder Hilpert dennoch nicht vorstellen. Obwohl Liutgards Schützling keinen Zweifel daran gelassen hatte, wie verhasst ihr der Tote gewesen war.
    Rosalinde – eine kaltblütige Mörderin? Nie und nimmer. Für das merkwürdige Verhalten musste es eine andere Erklärung geben. Bruder Hilpert hielt nachdenklich inne. Welche, konnte er sich fast denken. Nur beweisen konnte er seine Hypothese leider nicht.
    Zu betroffen, um dem Treiben ein Ende machen zu können, blieb Bruder Hilpert wie gebannt stehen. Im Licht der aufgehenden Sonne sah Rosalinde wie eine blutüberströmte römische Priesterin aus, Malachias wie ein dahingeschlachtetes Tier. Mit jeder Welle, die gegen die Bordwand der am Ufer vertäuten ›Charon‹ schlug, schien sich die ruckartige Bewegung ihres Körpers zu verstärken. Bleich wie der Tod, riss sie plötzlich den Arm empor, stach wie von Sinnen auf ihr imaginäres Opfer ein. So lange, bis sie in wilde Krämpfe verfiel, auf die Seite kippte und mit weit aufgerissenen Augen liegen blieb.
    Erst jetzt, und eigentlich viel zu spät, gab Bruder Hilpert seine Zuschauerrolle auf. Für das Mädchen konnte er dennoch nichts tun. Alles Beten, Bangen und Rütteln half nicht. Rosalinde rührte sich nicht mehr. Zusammengekauert wie ein Fötus lag sie auf den Decksplanken der ›Charon‹ und gab keinen Laut von sich.
    Der Verzweiflung nahe, sah sich Bruder Hilpert um. Und blieb wie erstarrt stehen.
    Auf den ersten Blick sah der Mönch im Dominikanerhabit wie ein Fremder aus. Und trotzdem war er kein Unbekannter für ihn. Zumindest seit Juli letzten Jahres nicht mehr. Damals, auf dem Reichstag zu Konstanz, war er ihm zum ersten Mal begegnet. Und im Verlauf einer Disputation mit ihm aneinandergeraten. Es war hoch hergegangen, und die Auseinandersetzung hatte hohe Wellen geschlagen. Die Frage, um die es auf dem Reichstag gegangen war, noch mehr: War Jan Hus ein Ketzer – ja oder nein? Und wenn ja: Was hatte mit ihm zu geschehen? Eine Frage, die indes längst beantwortet worden war.
    Im Gegensatz zu den Fragen, die Bruder Hilpert an den Dominikanermönch zu richten gedachte.
    »Gott zum Gruße, Bruder Coelestinus!«, hieß Bruder Hilpert den Mann, der sich als Richwyn der

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