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Pilger des Zorns

Pilger des Zorns

Titel: Pilger des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Klausner
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am Vordersteven schaukelte im Wind, und das Ufer war kaum zu erkennen. Fast lautlos, wie von Gespensterhand gesteuert, glitt die ›Charon‹ durch die dunkle Nacht. Das einzige Geräusch war das Rauschen der Segel, durch die der herannahende Sturmwind fegte.
    »Sieht ganz danach aus«, bekräftigte Berengar, dem es zusehends mulmig wurde. »Richtig wohl ist mir bei der Sache jedenfalls nicht.«
    »Wie? Was höre ich da? Kein Vertrauen gegenüber meiner Zunft?«
    Bruder Hilpert wirbelte herum. Nicht zum ersten Mal hatte er das Kommen des Kapitäns nicht bemerkt. Trotz alledem gab er sich jedoch Mühe, zumindest nach außen hin abgeklärt zu wirken. »Gott bewahre!«, rief er mit theatralischer Geste aus. »Wo kämen wir da hin.«
    Der Kapitän gab ein verächtliches Schnauben von sich, ging jedoch nicht darauf ein. »Euer Patient verlangt nach Euch«, verkündete er lapidar. »Höchste Zeit, Euch in meine Kajüte zu begeben.« Und dann, nach einem tiefen Atemzug: »Angenehme Nachtruhe, Bruder! Auf dass Ihr durch nichts und niemanden gestört werden möget.«

     

INTERLUDIUM (IV)
    An einen, der glaubte, mich aufhalten zu können

     
    Was immer auch geschieht, mag der Himmel einstürzen oder das Ende aller Tage nahen, ich werde den Willen Gottes vollstrecken und Malachias vom Angesicht der Erde tilgen. In ebendieser Nacht, ohne Skrupel. Niemand an Bord dieses Schiffes wird etwas davon mitbekommen, mich ertappen oder mir auf die Schliche kommen. Der Verdacht, die Tat begangen zu haben, wird auf andere fallen, auf alle anderen, nur nicht auf mich. Du, der Du Dich hoher Gelehrsamkeit rühmst, wirst Dir an mir die Zähne ausbeißen, im Dunkeln tappen, Deinen Meister finden.
    Warum ich es tue? Nun, die Antwort darauf fällt mir nicht schwer. Unter allen Missetätern, die meinen Weg gekreuzt haben, ist er der widerwärtigste, verkommenste und ruchloseste. So verderbt, dass er keine Aussichten hätte, vor Gottes Richterstuhl zu bestehen, weder jetzt noch am Ende aller Tage. Was er getan hat, kann nicht gesühnt werden, und obwohl geschrieben steht ›Du sollst nicht töten!‹ und ich mir durch die Missachtung von Gottes Geboten schwere Schuld aufladen werde, bin ich zum Äußersten entschlossen. Heißt es doch auch: ›Mein ist die Rache!‹, weshalb ich weder rasten noch ruhen noch zögern werde, den Willen Gottes zu vollstrecken, als dessen getreues Werkzeug ich mich betrachte.
    So möge er denn hinabfahren zur Hölle, auf dass er für seine Missetaten büße, Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr um Jahr. Möge ihm all das zuteilwerden, was er anderen angetan hat, ohne Hoffnung auf Gnade, Erlösung oder Barmherzigkeit. Möge er sämtliche Torturen erleiden, welche der Herr der Finsternis ersonnen hat, im Höllenfeuer braten von nun an bis in alle Ewigkeit.
    Ist doch eines ganz gewiss: Mit dem heutigen Tage wird sein jämmerliches Dasein beendet und Vergeltung geübt sein für das, wofür sich Malachias in all seiner Ruchlosigkeit zu verantworten hat.
    So sei es.
    Und so gehe ich nunmehr daran, mit Gottes Hilfe mein Werk zu vollenden.

     

     

     

     

     

DIES IRAE

     

     

     

     
    Tag nach Mariä Himmelfahrt
    (16.8.1416)

     

PRIMA
    Worin Bruder Hilpert einen grausigen Fund macht und sich ein Rätsel an das andere reiht.

     
    Die Gestalt, die kopfüber an der Rah baumelte, sah wie ein Stück Schlachtvieh aus. Sie war nackt, fettleibig und widernatürlich weiß. Der Kopf, dem eines Schweins verteufelt ähnlich, schwebte nur wenige Zoll über dem Boden, und anstelle des linken Auges klaffte ein Loch, in dem eine Silbermünze steckte. Das rechte Auge stierte schreckerfüllt ins Leere.
    Das Hässlichste an der Gestalt waren jedoch ihre Arme. Schlaff, behaart und weiß wie gelöschter Kalk wirkten sie wie Tentakel eines Seeungeheuers, das als Trophäe am Mast aufgehängt worden war. Je länger man sie betrachtete, umso unwirklicher, ja geradezu unmenschlich kam sie einem vor. Wäre die Blutlache auf den Decksplanken nicht gewesen, hätte sich dieser Eindruck noch verstärkt.
    Und dennoch: Mit einem gewöhnlichen Mord hatte dies hier nichts zu tun. Malachias, dereinst Prior des Dominikanerordens, war nicht einfach nur getötet, sondern abgeschlachtet, zur Schau gestellt, noch im Tode erniedrigt worden. Allem Anschein nach war dieser durch einen Stich ins Herz erfolgt, mit etwas Spitzem, jedoch nicht durch einen Dolch. Für dergleichen war die Wunde viel zu klein, im Durchmesser einen halben Zoll. Wer immer

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