Pilger des Zorns
hieß.
»Erlaubt, dass ich mich setze«, brach der Vogt, der keine Antwort erwartete, schließlich das Schweigen. Mit einem Seufzen, das so tief wie mitfühlend war, ließ er sich schließlich auf den wurmstichigen Schemel an dem mindestens ebenso klapprigen Tisch sinken und rührte den randvollen Krug darauf nicht einmal an. Nach Wein stand ihm derzeit nicht der Sinn. Und das wollte bei ihm etwas heißen.
»Ein Glück, dass er tot ist«, murmelte Berengar und fuhr mit dem Zeigefinger am Becherrand entlang.
Die Matrone, die sich zu ihm gesetzt hatte, blickte kurz auf. »Findet Ihr?«, fragte sie, schenkte sich nach und trank den Becher halb leer.
»Na klar – oder wäre es Euch lieber, er lebte noch?«
»So meine ich das nicht.«
»Wie dann?«
»Ach, nichts! Schon gut.« Die Matrone spielte an ihrer Warze herum und sah Berengar herausfordernd an. »Was hättet Ihr mit so einem gemacht? Als Vogt, meine ich.«
»Wir reden hier über Euren Bruder, ist Euch das klar?«
»Vollkommen.« Ohne mit der Wimper zu zucken, trank die Matrone den Becher vollends leer und schnalzte zufrieden mit der Zunge. »Über meinen Exbruder, um es genau zu sagen.«
»Seines Lebens froh geworden wäre er mit Sicherheit nicht«, räumte Berengar nach kurzer Bedenkzeit ein.
»Ist das alles?«
Berengar atmete tief durch und fuhr mit beiden Händen durch sein Haar. »Schwer zu sagen, wie das Grafschaftsgericht in einem derartigen Fall entschieden hätte.«
»Was gibt es denn da noch zu entscheiden?«
»Mehr, als Ihr denkt.« Berengar nestelte verlegen an seinem Hemdkragen herum. »Vor Jahren hatten wir mal einen ähnlichen Fall, nicht ganz so schlimm zwar, und da …«
»… wurde der Beschuldigte freigesprochen?«
»So etwas in der Art. Eine Armenspeisung, und die Sache war gegessen. Im wahrsten Sinne des Wortes.«
Aus dem Mund der Matrone kam ein gallenbitteres Lachen. »Ich muss Euch recht geben, Vogt: Ein Glück, dass er umgebracht worden ist.«
»Harmlos ausgedrückt.«
»Na und? Erst tut er dem Kind Gewalt an, dann brennt er mit dem Klosterschatz durch. Was weiß ich, was der Strolch sonst noch alles auf dem Kerbholz hat. Hat denn überhaupt jemand an uns beide gedacht, an Caelina und mich? Doch wohl am allerwenigsten.« Die Matrone war kaum noch zu bremsen. »Das Leben des Kindes ist doch zerstört. Und meins gleich dazu. Ein Glück, dass mein Schwager Spitalmeister in Ochsenfurt ist. Sonst wäre die Niederkunft wohl kaum zu verheimlichen gewesen.«
»Mit anderen Worten: Ihr habt Euch in Grund und Boden geschämt. So sehr, dass Ihr Euch entschlossen habt, eine andere Identität anzunehmen. Besser Liutgard Tuchscherer als Chlotilde Raab, hab ich recht? Besser die Tante spielen als zugeben, dass man die Mutter eines Kindes ist, das vom eigenen Oheim – und Bruder! – zugrunde gerichtet worden ist. Was für eine Schande, man stelle sich das mal vor.«
Trotz ihrer 43 Jahre sah Chlotilde Raab in diesem Moment wie eine Greisin aus. Verhärmt, verbittert – und voller Groll. »Ich weiß nicht«, zürnte sie, »ob sich der hochwohlgeborene Herr Vogt das vorstellen kann.«
»Was denn?«
»Wie das ist, wenn man als Frau eines Tuchhändlers, der außer einem Berg Schulden nichts hinterlassen hat, eine gute Partie für die eigene Tochter zu finden versucht. Nicht zuletzt, weil man Geld braucht wie der Teufel die arme Seele. Eine gute Partie – wohlgemerkt. Nicht einen dahergelaufenen Leinenweber. So einen hätte ich zur Not noch bekommen. Der hätte Caelina so genommen, wie … wie …«
»… sie ist – verstehe. Von daher auch Eure Idee mit der Pilgerfahrt nach Köln. Um, wie es so schön heißt, etwas Gras über die Sache wachsen zu lassen und Heilung zu erflehen. Speziell, was Caelinas verlorene Sprache betrifft.«
»Was hätte ich denn machen sollen, verdammt noch mal!«
»Euren Bruder zur Rede stellen – was sonst.«
»Hab ich ja auch.« Aus dem Mund der Matrone kam ein missmutiges Grunzen. »Nachdem mir Caelina alles gebeichtet hat, bin ich schnurstracks zu ihm hin. Logisch. Und wisst Ihr was, Vogt?«
»Er hat alles rundweg abgestritten.«
»Genau. Das Kind reime sich das alles nur zusammen, hat er gesagt. Mit dem schönsten Gesicht. Um ihm – genau das waren seine Worte – etwas in die Schuhe zu schieben, wofür er keine Verantwortung trage. Und das alles nur, weil das Kind von jeher einen Groll gegen ihn gehegt habe.«
»Und dann?«
»Um es kurz zu machen, Vogt: Seit Mariä Verkündigung,
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