Pilze für Madeleine
zwei Teller mit Kompott und Sahne.
Erst als ich sah, wie sie sich bewegte, erkannte ich sie richtig. Weiche, zielstrebige, resolute Bewegungen. Die Hände. Und ihre Stimme. Als sie zum Tisch zurückkam, blieb sie hinter meinem Stuhl stehen, stellte die Teller auf den Tisch und schlug die Arme um meine Schultern. Sie legte ihre Wange an meine. Ich spürte etwas Warmes und Feuchtes an meinem Gesicht, und ich war mir nicht sicher, ob es meine oder ihre Tränen waren.
»Ich habe mich auf der Fähre blamiert. Ich wurde über den Lautsprecher ausgeschimpft«, murmelte ich.
»Ach was. Sixten macht das immer.« Sie setzte sich und widmete sich wieder ihrer Makrele. »Er ist sauer, weil er vor zwei Jahren pleite gegangen ist und die Fischerei aufgeben mußte. Jetzt fährt er die Fähre. Er sitzt oben auf der Brücke und schreit in seinen Lautsprecher. Er bildet sich ein, der liebe Gott zu sein. Niemand schert sich um ihn.«
»Aber ich kam mir so blöd vor. Ein Krankenwagen wartete. Ich hatte Angst, daß der Patient sterben würde, weil ich mich so dumm anstellte.«
»Das war nur Mattiasson«, sagte Mutter und zog eine Gräte aus dem Mund. »Ein ganz normaler Krankentransport, nichts Eiliges, falls du das gedacht hast. Er liegt im Pflegeheim und kommt manchmal zu Besuch nach Hause. Es ist völlig gleichgültig, ob er mit dieser Fähre oder der nächsten mitkommt. Er hat alle Zeit der Welt. Sixten findet es toll, wenn er herkommt, dann kann er nämlich das Wort« Krankenwagen »durch den Lautsprecher brüllen.«
Ich nickte. Mutter lächelte mich an.
Ich war plötzlich so schüchtern.
Schweigend aßen wir Rhabarberkompott. Die Löffel klirrten gegen die Teller, und die Wanduhr tickte – ein lautes Ticken und dann ein schwächeres, als würde sie humpeln.
Erinnerungen und Gefühle wirbelten um mich herum. Das Himmelslicht vor dem Fenster blendete.
»Du möchtest dich bestimmt umschauen, wenn du schon mal hier bist«, sagte Mutter, als wir fertig gegessen hatten.
Wir verließen das Haus. Mutter ging voraus und zeigte mir eine Abkürzung über das Grundstück des Nachbarn. Von da kletterte sie auf ein Felsplateau, wo die Wäsche der Nachbarn im Wind flatterte, bückte sich und ging unter den Hemden und Hosen hindurch den Felsen hinauf, der sich über dem Fischerhafen erhob. An manchen Stellen war es richtig steil, und ich wußte nicht, wie weiterkommen.
Aber Mutter fand immer einen Weg. Mal wich sie nach rechts aus, an der nächsten Steigung nach links, sie fand natürliche Treppenstufen, kleine Büsche, an denen man sich festhalten konnte, Steine, die über den Felsspalten lagen. Sie bewegte sich schnell und geschickt, und mir war klar, daß sie den Weg sehr genau kannte.
Sie blieb erst stehen, als sie auf dem Gipfel angelangt war. Ich war ein wenig zurückgeblieben und sah, wie sich ihr schmaler, sehniger Körper gegen den Himmel abzeichnete, die blaugestreifte Schürze flatterte im Wind.
»Komm her, ich zeig dir was!« rief sie eifrig.
Ich verstand überhaupt nicht, wie sie da hochkommen konnte. Ich versuchte, wie sie zu klettern, aber ich kam nicht mehr weiter. Blitzschnell kam Mutter zu mir herunter, sie streckte mir ihre Hand entgegen und zog mich auf ein Plateau. Sie zog mich beinahe hinter sich her, bis wir auf dem Gipfel standen.
Der Wind da oben wehte kräftig, die Haare flogen ihr ins Gesicht, wenn sie mich anschaute. Sie hielt immer noch meine Hand in einem festen Griff.
»Du kannst mich jetzt loslassen«, sagte ich lachend.
Sie schüttelte den Kopf.
»Glaubst du, ich lasse dich los, wo ich dich endlich zu fassen bekommen habe!«
Dann endlich lockerte sich ihr Griff um meine Hand, und sie schlang die Arme um mich.
Ich war erstaunt, wie klein sie war. Ihre Wange lag auf meiner Brust. Einmal vor langer Zeit hatten wir uns so umarmt. Aber da war es umgekehrt gewesen: meine Wange an ihrer Brust, ihre Wange an meinem Kopf.
Ich hielt ihren kleinen starken Körper und schaute aufs Meer hinaus und den Möwen zu, die im Wind umherwirbelten.
Das hatte sie mir zeigen wollen. Ihre Welt. Die Welt, die Vater verabscheute und vor der er mich schützen wollte.
Mutter setzte sich auf den Felsen und strich ein paar rotblonde Strähnen aus dem Gesicht. Ich setzte mich neben sie.
Sie wollte mich nicht richtig loslassen und hielt immer noch meine Hand. Sie legte sie auf ihren Schoß und streichelte sie wie eine Katze.
»Wie geht es dir?« fragte sie.
Sie hatte mich das gleiche schon in der Küche gefragt, und ich
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