Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
anderes Feld, entfernte ihn dort wieder, um ihn anschließend in eine völlig neue Position zu bringen. Früher hatte er sich aus Zeitvertreib oft mit Schachrätseln beschäftigt, manchmal sogar in Zeitungen an Wettbewerben teilgenommen, aber nie etwas gewonnen, obwohl seine Lösungsvorschläge fast immer richtig waren. In den letzten Jahren hatte er allerdings die Lust daran verloren, seine Schachaktivitäten auf ein bis zwei Partien pro Woche mit Dr. Schönthaler beschränkt. Er erinnerte sich aber noch sehr genau an das recht einfache Grundprinzip dieser Knobelaufgaben: Es mussten immer zwingende Züge benutzt werden, d.h. Züge, auf die der Gegner nur mit einem einzigen Gegenzug antworten konnte.
Nun war der schwarze Turm an der Reihe. Tannenberg probierte mehrere Variationen aus, aber er schaffte es immer nur in mindestens vier Zügen, den schwarzen König matt zu setzen. Er trat etwas zurück, ging ein paar Schritte in Richtung des dunklen Korridors, begab sich wieder an den Tisch, blickte auf das in die ursprüngliche Stellung zurückversetzte Schachrätsel, griff die weiße Dame, stellte sie so, dass der eine schwarze Turm die Dame schlagen musste, um ein sofortiges Matt zu verhindern. Dann zog er den Springer und bot Schach. Da dem schwarzen König nur noch ein Feld übrig blieb, auf das er flüchten konnte, musste Tannenberg seinen Turm nur noch auf die Grundlinie ziehen.
»Matt – Matt in drei Zügen! Ich hab’s rausgekriegt! War wirklich nicht so schwer, wie zunächst vermutet. Man musste nur die eigene Dame opfern!«, rief er stolz, wobei man den Eindruck gewinnen konnte, dass das Schachrätsel ihn so sehr in Bann gezogen hatte, dass er für einige Augenblicke die makabre Situation, in der er sich befand, völlig vergessen hatte.
»Gut, Wolf – und jetzt?«, fragte Mertel, ohne die Leistung seines Kollegen auch nur andeutungsweise zu würdigen.
»Was?«
»Was wir jetzt machen sollen?«
»Hast es doch vorhin selbst gehört: Warten. Wenn ich das Schachrätsel gelöst hab, sollen wir warten. Sagt mal, könnt ihr euch vorstellen, dass dieser Mistkerl hier im Haus die Frauen umgebracht hat?«
»Also, ich glaub das nicht«, entgegnete die Psychologin, die während der ganzen Zeit nahezu regungslos im Flur gestanden hatte. »Das wäre ein viel zu großes Risiko für ihn gewesen.«
»Kann ich mir auch nicht vorstellen. Der Tatort ist bestimmt ganz woanders. Dort, wo nicht so viele Leute sind«, pflichtete der Kriminaltechniker seiner Kollegin bei. »Übrigens, Wolf, die Sache mit dem Kassettenrecorder und der Hängelampe lässt sich ganz leicht erklären: Der Typ hat zwei Lichtschranken eingebaut, billige Dinger, wie du sie in jedem Heimwerkermarkt kaufen und selbst installieren kannst.«
Plötzlich läutete das Telefon, das direkt neben dem Recorder auf der Flurkommode stand.
»Eva, geh mal ran.«
»Mach du das lieber!«
»Mach endlich! Du stehst doch direkt daneben!«, giftete Tannenberg sie an.
Eva Glück-Mankowski hob das Schnurlostelefon aus der Ablageschale und reichte es direkt an den übellaunigen Hauptkommissar weiter, der ihr bereits ein paar Schritte entgegengekommen war.
Tannenberg merkte gleich, dass es sich abermals um eine Bandaufnahme handelte. Er drückte auf die Mithörtaste und hielt das dunkelgrüne Gerät vor sich in den Raum.
»Hör genau zu, denn ich sag es nur einmal: Du fährst jetzt sofort mit deiner Freundin los ins Neuhöfertal. Dort stößt du hinter dem Sägemühler Weiher nach etwa 500 Metern auf einen asphaltierten Waldweg, der dich zu dem Haus meiner Mutter führt. Den Schlüssel findest du unter der Mülltonne. Dort wartet eine weitere Aufgabe auf dich, und dort wirst du auch einige Antworten auf deine Fragen finden. Und denke daran: Solltest du auf die Idee kommen, dort ohne deine Freundin aufzukreuzen oder irgendeinen billigen Trick zu versuchen, werde ich ohne auch nur einen Moment zu zögern den Bolzenschussapparat auslösen.«
Als erfahrener Spurensucher hatte sich Mertel natürlich gefragt, wieso der Anrufer überhaupt wissen konnte, dass Tannenberg das Rätsel richtig gelöst hatte. Noch während das Band lief, suchte er deshalb nach einem verborgenen Mikrophon, das er schließlich auch ziemlich schnell über der blauen Hängelampe in einer Kunststoffmanschette entdeckte und entfernte es.
Kommissar Schauß und weitere SOKO-Mitarbeiter waren inzwischen ebenfalls in der Wohnung eingetroffen. In knappen Worten fasste Tannenberg das Geschehen der letzten
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