Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
Gefühl.« Margot Tannenberg seufzte. »Ach Gott, Wolfi, und irgendwann findest du bestimmt auch wieder eine gute Frau für dich, so wie Lea eine war. Sie war so ein bildhübsches Geschöpf und so ein liebenswerter Mensch, welch ein Jammer! Mein armer, armer Junge!«
Tannenberg nahm seine Mutter in den Arm, gab ihr einen zarten Kuss auf die Wange und wünschte ihr eine Gute Nacht.
Es lag sicherlich an der plötzlich aufkommenden kühlen Sommerbrise, die zu einer leichten Reizung seiner Augen führte.
5
Jetzt läuft er wieder wie ein eingesperrter Tiger vor der Badtür auf und ab, dachte Marieke schadenfroh. Durch exaktes Timing hatte sie es wieder einmal geschafft, das Badezimmer als Erste zu besetzen. In aller Ruhe bürstete sie ihre Haare und suchte nach dem für diesen so wichtigen Tag angemessenen Ohrschmuck. Aus den knarrenden Bodendielen und den von wüsten Schimpfwörtern begleiteten lauten Klopfgeräuschen schloss sie, dass ihr Bruder wieder einmal kurz vor einem martialischen Wutausbruch stand.
»Ich brauch noch ein bisschen, Bruderherz, geh doch lieber runter ins Gästeklo«, rief sie so laut sie konnte durch die verschlossene Tür.
Um sich ihre euphorische Stimmung durch die nun zu erwartenden Hasstiraden nicht vermiesen zu lassen, drehte sie das Radio noch ein wenig lauter. Marieke konnte sowieso nur recht wenig Verständnis für die Bedürfnisse ihres kleinen Bruders aufbringen, ging es bei ihm doch nur darum, sich schmieriges Gel in die Haare zu kämmen. Eine nach ihrer Meinung in seinem Alter eigentlich völlig überflüssige kosmetische Prozedur, da er sich sowieso nur für Handball und Computerspiele, aber noch nicht für das andere Geschlecht interessierte. Ganz im Gegensatz zu Marieke, die gerade damit begonnen hatte, diesen unglaublich spannenden Grenzbereich des menschlichen Lebens intensiv zu erforschen. Und an diesem Morgen war es nun mal ganz besonders wichtig, sich mit einem ausgefeilten Styling für den Jahrmarkt der jugendlichen Eitelkeiten aufzurüsten. Schließlich hatte Marieke es gestern endlich geschafft, mit einem von ihr und ihren Freundinnen heftigst angeschmachteten Jungen aus der elften Klasse ein Date zu vereinbaren.
»Marieke, komm, beeile dich«, polterte nun auch noch der zweite männliche Mitbewohner an die Holztür.
»Warum? Es ist doch noch Zeit! Ich bin eigentlich schon fertig. Warum machst du denn so’n Stress? Du gehst doch immer schon vor mir ins Bad.«
»Es geht ja überhaupt nicht um mich.«
»Um wen denn dann? Hat mein nerviger kleiner Bruder wieder einmal gepetzt?«, fragte Marieke, während sie die Badtür öffnete.
»Nein, Wolf hat gerade angerufen. Er muss dringend ins Kommissariat, aber sein BMW ist in der Werkstatt. Und Mama ist mit unserem Auto schon unterwegs zu einer Fortbildung in Speyer. Er fragt, ob du ihn mit deinem Roller schnell dorthin fahren kannst.«
»Klar, mach ich das, Papa. Selbstverständlich!«, entgegnete Marieke. »Er soll vor der Garage warten. Ich bin in zwei Minuten unten. Aber merk dir doch endlich mal: Ich fahre keinen Roller, sondern einen Scooter!«
»Egal, die Hauptsache, das Ding fährt!«
»Das Ding! Das Ding! – Eltern kapieren einfach gar nix!«, murmelte Marieke vor sich hin, als sie ihren geliebten Scooter vorsichtig aus der Garage schob.
»Hallo, Lieblingsnichte, tut mir leid, dass ich dich belästigen muss, aber irgendwas Wichtiges muss passiert sein, sonst würde mein Chef nicht so’n riesen Theater veranstalten«, sagte Tannenberg und setzte sich auf die mit braunem Kunstleder bezogene Sitzbank.
»Ich hab aber keinen Helm für dich.«
»Macht nichts, ist ja nicht weit. Fährst eben vorsichtig«, bat Tannenberg und ließ zunächst sicherheitshalber seine Beine als Stützräder ausgestreckt knapp über den Boden schleifen.
Erst als Marieke Fahrt aufnahm, getraute er sich, seine Füße nacheinander auf die kleinen weggeklappten Fußraster zu stellen. Mit langsamer Geschwindigkeit bogen sie in die Rudolf-Breitscheid-Straße ein. Tannenberg wunderte sich darüber, wie souverän seine Nichte den Roller beherrschte. Er musste ehrlich zugeben, dass er ihr dies nicht so ohne weiteres zugetraut hätte.
Die Mädchen sind heutzutage sowieso viel erwachsener und selbstbewusster als diese albernen, verschüchterten Hühner, mit denen wir es damals in der Tanzstunde zu tun hatten. Außerdem riechen die jungen Damen heutzutage einfach überwältigend gut, dachte er, während er tief den von Marieke ausströmenden
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