Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
einen Brief mit ’ner Adresse auf’m Bännjerrück losschicke, der erst nach Ludwigshafen gekarrt wird und dann wieder zurückkommt, um hier zugestellt zu werden?«
»Genau das heißt es, Wolf. Und deswegen kann man nicht sagen, wo die Karte eingeworfen wurde, noch nicht mal die Stadt! Irre, aber so ist es!«
»Es ist Wahnsinn, aber es hat Methode! Hab ich irgendwo gelesen. Und was ist mit dem Zeitpunkt? Wann wurde sie abgeschickt?«
»Da ist eine Eingrenzung schon eher möglich. Natürlich immer vorausgesetzt, dass an dieser Sache nichts manipuliert wurde«, sagte der Kriminaltechniker und begutachtete die Ansichtskarte. »Hier im Poststempel steht 25.6. Das war gestern. Dann ist diese Karte wahrscheinlich am Dienstagmorgen oder am späten Montagabend eingeworfen worden. Aber genau und sicher kann man das wiederum nicht sagen, weil man eben nicht weiß, in welchen Briefkasten die Karte geworfen wurde, ob es einer mit Nachtleerung war usw.«
»Also: Genaues weiß man nicht! Hab ich auch irgendwo gelesen!«, bemerkte Tannenberg staunend. »Warum fallen mir im Augenblick so viele Zitate ein?«
»Zwei Möglichkeiten, Wolf: Entweder du hast zu viel Zeit zum Lesen oder das Gedicht hat dich so sehr beeindruckt«, meinte Kommissar Schauß.
»Dieses Gedicht …« Tannenberg las es erneut. »Der Frauentod ist Liebesfron – Eröffnet ist die Pilzsaison. – Unglaublich! Was meint ihr: Von einem Trittbrettfahrer oder vielleicht doch vom Täter selbst geschrieben?«
Keiner der Mitarbeiter schien sich zu dieser Frage äußern zu wollen.
»Ist auch sicher noch zu früh, wir wissen einfach noch zu wenig. Aber wisst ihr, was ich weiß, was ihr nicht wisst?«
Betretenes Schweigen.
»Ich weiß, dass ich jetzt dringend an die frische Luft muss. Und das habt ihr nicht gewusst, oder?«
»Wolf, soll ich nicht doch besser einen Arzt rufen? Aber vielleicht hilft wirklich schon ein wenig frische Luft«, entgegnete Schauß lachend.
Da sich im tiefsten Körperinnern Tannenbergs inzwischen ein dezentes Hungergefühl bemerkbar machte, sich sein Bedürfnis nach familiären Kontakten nach den wenig erfreulichen Ereignissen des gestrigen Abends aber verständlicherweise in Grenzen hielt, führte ihn sein Spaziergang nicht nach Hause, sondern in die belebte Innenstadt. Zielstrebig steuerte er sein Lieblingscafé direkt neben der Stiftskirche an. Obwohl die eigentliche Mittagszeit gerade erst begonnen hatte, fand Tannenberg bereits keinen Sitzplatz mehr im Freien und musste sich somit wohl oder übel in den großen Innenraum des Stadtcafés begeben. Sein leichter Unmut über diese Tatsache wurde aber dadurch gemindert, dass er seinen Lieblingsplatz auf der breiten Ledercouch rechts neben der Theke unbesetzt vorfand. Diese räumliche Position brachte einige nicht zu unterschätzende Vorteile mit sich: Zum einen hatte man die Eingangstür im Blick – ein Umstand, der einem erlaubte, die Kontakte zu den lieben Mitmenschen auf das selbst gewünschte Maß zu reduzieren. Schließlich lebte Tannenberg seit seiner Geburt in dieser Stadt, was eben unweigerlich zur Folge hatte, dass man viele Leute kannte, auch solche, die man nicht unbedingt kennen wollte. Und die permanente Beobachtung der gläsernen Flügeltür eröffnete die Möglichkeit zur bewussten Steuerung der mitmenschlichen Kommunikation, z.B. dadurch, dass man die gespreizte Hand an die Stirn legte und gleichzeitig den Kopf senkte, womit man den Anschein erweckte, interessiert zu lesen.
Dieser exponierte Sitzplatz bot aber zum anderen noch einen weiteren strategischen Pluspunkt, denn man hatte einen sehr guten Überblick über die Aktivitäten des Servicepersonals, das entweder aus übertrieben freundlichen oder aus missmutigen Damen jüngeren Alters bestand. Und nichts hasste Tannenberg mehr, als in einer Gaststätte oder in einem Café in der Mitte eines Raumes sitzen zu müssen und die Bedienung nicht im Blickfeld zu haben. Außerdem hatte er einmal gelesen, dass irgendwelche Psychologen entdeckt haben, dass Männer sich in Lokalen nur dann richtig wohl fühlen, wenn sie in einer Ecke mit dem Rücken zur Wand sitzen können – wegen evolutionärer Programmierungen, meinte er sich zu erinnern.
An diesem Mittag hatte er wieder einmal Pech, denn seine absolute Lieblingsbedienung im negativen Sinne hatte Dienst. Während sie ohne Begrüßung mürrisch seine Bestellung entgegennahm, fragte sich Tannenberg wie schon so oft, warum dieser Frau anscheinend bislang niemand deutlich
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