Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
registrierte, dass sie bereits vor seinem Wohnhaus eingetroffen waren.
»Wolf, wir sind da. Du wirst auch schon erwartet.«
»Was? Oh nein, Sherlock Holmes! Der hat bestimmt wieder neue Informationen zu verkaufen.«
Bevor Jacob Tannenberg überhaupt zu Wort kommen konnte, hatte sich sein Sohn bereits hektisch an ihm vorbeigedrängt und schnellen Schrittes das Nordhaus durchquert.
Heiner saß in dem zwischen den beiden Häusern gelegenen Garten im Halbschatten und war anscheinend mit irgendwelchen Korrekturarbeiten beschäftigt.
»Wo sind Betty und die Kinder?«, wollte der Leiter des K 1 wissen.
»Was? Warum?«, fragte sein völlig konsternierter Bruder.
»Frag nicht, antworte!«
»Was ist denn los?«
»Bist du allein?«
»Ja. Marieke ist bei einer Freundin, Tobias im Handballtraining und Betty bei der Fortbildung in Speyer. Aber jetzt sag doch mal endlich, was überhaupt los ist.«
»Komm, wir gehen rein ins Haus. Da haben wir unsere Ruhe.«
Nachdem sich die beiden Männer an den Küchentisch gesetzt hatten, kramte Tannenberg die Fotokopie des Pfifferling-Gedichts aus der Hosentasche, legte sie zusammengefaltet vor sich hin und breitete beide Hände darüber.
»Heiner, ich brauch dringend deine Hilfe. Aber zuerst musst du mir versprechen, niemandem, wirklich niemandem, irgendetwas von unserem Gespräch oder von dem, was ich dir jetzt zeigen werde, zu erzählen. Versprochen?«
»Versprochen! Großes Indianer-Ehrenwort.«
»Gut. Dann schau dir das mal an«, sagte Tannenberg, faltete das Papier auseinander und überreichte es seinem Bruder. »Du bist doch Deutschlehrer. Sag mir einfach spontan, was dir zu diesem komischen Gedicht hier einfällt.«
Tannenbergs Wunsch nach Spontaneität wurde nicht erfüllt.
Zuerst las sein Bruder das Gedicht mehrmals sich selbst leise vor, dann nahm er einen Bleistift und kritzelte Zeichen und Buchstaben über und neben die Zeilen. Anschließend erhob er sich mitsamt seinem Küchenstuhl und ließ sich neben Tannenberg nieder. »Unglaublich! Also pass mal auf: Alles, was ich dir jetzt sage, ist nicht fundiert. Ich müsste mir das Gedicht mal in aller Ruhe anschauen, ein paar Dinge nachschlagen …«
»Vergiss es!«, unterbrach der Ermittler ungeduldig. »Das geht nicht, ich kann dir das Ding oder eine Kopie davon nicht überlassen. Eigentlich hätte ich dir das Gedicht noch nicht mal zeigen dürfen. Egal, mach weiter!«
»Gut: Es gibt zwei Sachen, die man bei einer Gedichtinterpretation analysieren muss. Das erste ist die Form, und das zweite ist der Inhalt. Zur Form: Siehst du diese kleinen Striche hier?«
»Dieses ›v‹ mit dem Strich jeweils daneben?«
»Ja, genau das. Diese Zeichen geben Aufschluss über den Versfuß, den der Dichter gewählt hat. Das hier ist ein Jambus und das hier ist ein Trochäus; das heißt, der Versfuß ist einmal steigend und einmal fallend.«
Zur Verdeutlichung las Heiner Tannenberg seinem Bruder einige Passagen laut vor, wobei er besonderen Wert auf die Demonstration der unterschiedlichen Betonungsmuster legte.
»Okay, kapiert. Und was bedeuten die Zahlen hinter jeder Zeile?«
»Das ist die Anzahl der Silben.«
»Immer acht?«
»Ja, jede Zeile hat genau acht Silben«, antwortete Heiner Tannenberg und zählte die Silben zur Untermauerung dessen, was er gerade behauptet hatte, ab, wobei er parallel dazu mit seinem Bleistift die einzelnen Silben kurz antippte.
»Okay, weiter!«
»Das Gedicht besteht aus vier Strophen, mit einer abgesetzten Zeile.«
»Seh ich. Weiter!«
»Die erste und die letzte Strophe sind als Paarreime verfasst. Die zweite als Kreuzreim und die dritte als sogenannter ›umarmender Reim‹.«
»Komm, du sollst keinen Lyrik-Vortrag vor deinen Abiturienten halten. Was ist mit dem Inhalt?«
»Ja, gut, auf den ersten Blick handelt es sich um Naturpoesie. Vor allem die ersten Strophen. Wenn man aber den Hintergrund kennt, dann läuft es einem besonders bei der letzten Strophe eiskalt den Rücken runter«, sagte Heiner Tannenberg und schüttelte sich wie ein Hund, der gerade aus dem Wasser kam.
»Kannst du irgendwas über den Autor aus dem Gedicht herauslesen?«
»Schwer. Sehr schwer. Schließlich zieht man normalerweise zu einer professionellen Gedichtinterpretation Grundwissen über den Verfasser heran. Was in diesem Falle ja wohl kaum möglich ist. Man könnte hier nur gefühlsmäßig spekulieren.«
»Dann mach das mal!«, forderte Tannenberg.
»Also: Das Gedicht ist von der Struktur her recht einfach,
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