Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
sicherlich keine lyrische Meisterleistung. Ich würde es als interessante Arbeit eines Hobbylyrikers bezeichnen. So was kann man, wenn man ein wenig geübt ist, leicht in zwei bis drei Stunden runterschreiben. Der Autor verfügt augenscheinlich über ein gutes Sprachgefühl. Obwohl …«
»Obwohl was?«
»Obwohl mich einiges verwirrt.«
»Was denn?«
»Na, zum Beispiel: Warum lässt er alle vier Zeilen der ersten Strophe mit einem bestimmten Artikel beginnen: Der – Der – Die – Der? Das ist primitiv und passt sprachlich überhaupt nicht zu den anderen Strophen – Zufall oder Absicht?«
»Wirklich seltsam! Heiner, du bist echt gut!«, lobte Tannenberg die germanistische Fachkompetenz seines Bruders.
»Es gibt aber noch andere Fragen, die man beantworten müsste: Warum verwendet der Verfasser verschiedene Reimformen; will er uns seine kreativen Fähigkeiten demonstrieren? Warum setzt er diese eine Zeile hier, die mit den Pfifferlingen, von den anderen ab; hat das eine besondere Bedeutung?«
»Glaubst du, dieser Kerl ist intelligent?«, platzte es auf einmal unkontrolliert aus Tannenberg heraus.
»Nein!«, antwortete der Deutschlehrer blitzschnell.
»Wieso nicht?«, fragte Tannenberg verblüfft.
»Er ist nicht intelligent, Wolf, er ist sehr, sehr intelligent! Außerdem hab ich den Eindruck, dass du es hier mit einem ganz raffinierten Spieler zu tun hast; einem Spieler, der über außergewöhnliche strategische Kompetenzen verfügt. Aber das ist, wie gesagt, nur ein Gefühl, reine Spekulation.«
»Ja, Heiner, vielleicht ist das alles nur reine Spekulation. Vielleicht hab ich dich ja umsonst belästigt und das Gedicht stammt gar nicht vom Täter, sondern nur von einem sehr, sehr verrückten Trittbrettfahrer, der anscheinend nichts anderes im Sinn hat, als makabre Spielchen mit der Polizei zu veranstalten«, sagte der Leiter des K 1 nachdenklich und faltete die Gedichtkopie wieder zusammen.
Als Tannenberg den Garten durchquerte, sah er, wie sein Vater gerade die Tür des Nordhauses öffnete. Da er weder Lust auf Streit noch auf Smalltalk hatte, versuchte er mit Hilfe einer Beschleunigung seiner Gehbewegungen dem Einflussbereich seines Vaters schnellstmöglich zu entfliehen. Doch der Senior versperrte ihm erfolgreich den Fluchtweg, indem er sich mitten in den Türrahmen stellte.
»Wolfram, bleib bitte mal stehen.«
»Vater, ich hab jetzt wirklich keine Zeit.«
»Aber ich muss dir etwas ganz Wichtiges sagen.«
Widerwillig entsprach Tannenberg dem Wunsch seines Vaters. »Okay, was gibt’s?«
Jacob Tannenberg rang sichtlich um Fassung. Sein Mie-nenspiel verriet die große emotionale Anspannung, die ihn zu belasten schien: Er schluckte mehrmals, schniefte, zuckte mit den Mundwinkeln, schließlich schossen ihm Tränen in die Augen.
»Vater, was ist denn passiert?«, fragte Tannenberg betroffen.
»Bub, der Fritz ist tot!«
7
»Du, Carmen, ich kann dich leider heute Abend nicht zu dieser Vernissage begleiten«, sagte Eva Glück-Mankowski hektisch in das Mobiltelefon. »Ich muss sofort los nach Kaiserslautern. Da scheint es mächtig zu brennen.«
»Was ist denn passiert?«
»Die haben anscheinend einen Serienmord und wissen nicht mehr weiter. Sag mal, wie komme ich denn überhaupt dorthin?«
»Einfach auf die Autobahn und dann immer den Schildern nach.«
»Na, hoffentlich finde ich den Weg. Das ist doch tiefste Provinz, mitten im Pfälzer Wald. Haben die eigentlich schon fließendes Wasser?«
»Ja, ich denke schon. Aber so viel ich weiß, nur kaltes. Du solltest noch unbedingt an einer Buchhandlung vorbeifahren und dir ein Pfälzer Wörterbuch kaufen. Sonst kannst du die Leute da unten nicht richtig verstehen!«
»Sprechen die kein Hochdeutsch?«
»Doch, aber nur an der Uni.«
»Dann probiere ich’s eben mit Englisch. Das werden die ja wohl hoffentlich hinkriegen. Schließlich habe ich mal gelesen, dass die inmitten der größten amerikanischen Siedlung außerhalb der USA leben«, entgegnete Eva Glück-Mankowski trotzig, während sie den langen Reißverschluss an ihrer dunkelblauen Sporttasche zuzog.
Die Autofahrt nach Kaiserslautern gestaltete sich jedoch weitaus schwieriger, als ihre Freundin vorhergesagt hatte. Von wegen ›einfach auf die Autobahn und immer den Schildern nach‹. Sie fand nicht einen einzigen Wegweiser nach Kaiserslautern. Zum ersten Mal verfuhr sie sich, als sie plötzlich mit der Alternative Darmstadt oder Bingen konfrontiert wurde. Da sie weder in die eine noch
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