Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
der Chemieindustrie. Und irgendwann hat mir diese Arbeit einfach keinen Spaß mehr gemacht. Ich hab dann aufgehört, bin quasi ›ausgestiegen‹, wie man heute so schön sagt, und versuche seitdem, die Natur nicht mehr mit chemischen Produkten zu vergiften, sondern ihr zu helfen. Und das mit den Wohnungen ist wirklich ganz einfach. Sie sind nämlich in ihrem Wesen genauso unterschiedlich, wie ich und meine Frau es sind. Wir haben gemeinsam dieses Haus vor 10 Jahren gebaut. Nur als ich diese radikale Wandlung durchgemacht habe, ist mir meine Frau nicht gefolgt, sondern ist ihren Weg – auch beruflich – einfach gradlinig weitergegangen. Dann haben wir uns darauf geeinigt, dass ich unten mein Reich bekomme und wir ansonsten alles so lassen, wie es war, auch schon wegen der Freunde und der Repräsentationsfunktion, die für meine Frau sehr wichtig ist.«
»Verstehe«, sagte Schauß. »Aber, Herr Müller-Clausen, wir sind ja eigentlich wegen etwas anderem gekommen.«
»Das ist richtig«, stimmte Tannenberg zu und überreichte dem Pilzexperten Kopien der beiden Gedichte, auf denen er allerdings die letzten beiden Zeilen abgeschnitten hatte.
»Werfen Sie doch bitte mal einen Blick darauf und sagen Sie uns, ob die Angaben zu den verschiedenen Pilzen Ihrer Meinung nach richtig sind und ob Ihnen irgendwas an den Gedichten auffällt.«
»Jetzt verstehe ich den Grund Ihres Besuches: Dieser verrückte Serienmörder hat Gedichte über Pilze verschickt!«
Hoffentlich sind da keine giftigen Blüten des Roten Fingerhuts drin, dachte Tannenberg, als er einen Schluck Kräutertee aus der braunen Teetasse nahm, die Müller-Clausen auf die aus einer dicken Baumscheibe bestehende Tischplatte gestellt hatte.
»Also, meine Herren, was hier inhaltlich zum Cantharellus cibarius und zum Boletus minatoporus steht, ist, zumindest von der fachbiologischen Seite her, vollkommen richtig. Wie die Gedichte allerdings aus germanistischer, lyrischer Perspektive zu beurteilen sind, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Und was sich psychologisch aus den Gedichten herausinterpretieren lässt … Da kann ich Ihnen leider auch nicht weiterhelfen. Aber eins steht für mich fest: Der Mann kennt sich aus, der verfügt über Detailkenntnisse, über Praxiswissen.«
»Wie meinen Sie das?«, wollte Schauß wissen.
»Der hat Dinge in die Gedichte reingeschrieben, die findet man nur ganz, ganz selten in irgendeiner Fachveröffentlichung.«
»Was denn zum Beispiel?«, fragte Tannenberg interessiert nach. »Diese Informationen kann sich doch wohl jeder im Internet besorgen!«
»Nein, eben nicht! Das ist es ja gerade! Da ist zum Beispiel diese Sache mit dem Teufelsring bzw. dem Hexenkreis, was inhaltlich übrigens genau dasselbe ist. Mit diesen Begriffen bezeichnet man nämlich die Tatsache, dass der Pfifferling genauso wie der Hexenpilz in unbejagten Gebieten, wie wir sagen, also in Gebieten, in denen entweder gar nicht oder nur sehr wenig gesammelt wird, in Form eines großen, geschlossenen Kreises auftritt. Wissen Sie, was das heißt?«
Keine Reaktion, nur erwartungsvolles Staunen.
»Das heißt, in solchen unberührten Gebieten stehen in einem Kreis mit einem Durchmesser von 3-5 Metern vielleicht 50, vielleicht aber auch 100 ausgewachsene Pfifferlinge – auf einem Platz! Können Sie sich das vorstellen? Ich kann Ihnen sagen, das ist ein Anblick, den werden Sie zeitlebens nicht mehr vergessen! Und um das zu wissen, muss man selbst Pilzjäger sein, und zwar ein besessener! Und zwar so einer wie ich, der sogar manchmal nachts im Wald schläft.«
»Was machen Sie?«, schoss es aus Tannenberg heraus.
»Ja, ich schlafe manchmal im Wald. Vor allem dann, wenn meine Frau Gäste aus ihrer Bank da hat und ich einfach keine Lust auf diese Leute habe. Das sollten Sie mal ausprobieren, meine Herren. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie das auf völlig andere Gedanken bringt. Sie nehmen danach die Welt mit ganz anderen Augen wahr. Ich biete übrigens Outdoor-Seminare an …«
»Wann haben Sie in den letzten Wochen im Wald geschlafen?«, drängte sich Schauß fragend dazwischen.
»Da muss ich erst mal nachdenken … Um welchen Zeitraum geht’s denn genau?«
»Die letzten beiden Wochen«, erwiderte der junge Kommissar.
»In den letzten beiden Wochen?« Müller-Clausen ging zu seinem Terminkalender, der aufgeschlagen inmitten seines unaufgeräumten Schreibtischs lag. »Nein, das letzte Mal muss das so vor etwa drei Wochen gewesen sein. Genau, am 8. Juni, da gab
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