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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Stadt waren ausgestorben, als der alte Shiguli mit dem großen U für Führerscheinneulinge auf der Windschutzscheibe sie bis vor die Haustür fuhr.
    Viktor drückte dem Anfängerfahrer, einem bleichen jungen Burschen mit ewig fragendem Blick hinter den Brillengläsern, fünfundvierzig Griwni in die Hand. Das war natürlich ziemlich viel, aber normale Leute schliefen auch um diese Zeit nach der fröhlichen Sause, während Nichtnormale, oder einfacher gesagt, die, denen das Geld fürs Leben nicht reichte, versuchten, etwas dazuzuverdienen. Für sie war dies die ergiebigste Nacht. Betrunkene Passagiere zahlen mehr als üblich – aber nur in der Neujahrsnacht.
    [427] In der Wohnung schliefen alle noch. Die Uhr zeigte Viertel vor zehn. Im Flur maunzte die Katze vor dem leeren Schälchen. Damit sie Ruhe gab, füllte Viktor ihr das Schälchen mit Milch. Dann holte er aus dem Eisschrank ein gefrorenes Seelachsfilet. Er warf den Fisch in die Spüle und ließ warmes Wasser ein, damit er ein bißchen auftaute. Und er beschloß selbst zu frühstücken, denn der Spaziergang über das Dnjepreis machte sich bemerkbar. Jetzt spürte er die Müdigkeit und den Hunger. Gegen die Müdigkeit half nur Schlaf, doch gegen den Hunger? Die Antwort lag noch auf dem Festtisch.
    Viktor holte sich von dort den Topf mit den Bratenresten, nahm sich seinen gestrigen Teller, und er und Mischa frühstückten.
    Als erste erwachte Sonja. Ihre Geschenke schon im Arm, schaute sie in die Küche.
    »Eigentlich wollte ich ja gern Schlittschuhe«, erklärte sie Viktor.
    »Das hättest du Väterchen Frost irgendwie mitteilen müssen.«
    »Er hätte es auch selber erraten können!« bemerkte das Mädchen listig. »Ich habe übrigens auch Hunger!«
    »Soll ich dir Grießbrei kochen?«
    »Aber nein! Ich nehme mir was vom Tisch!«
    Sie lief hinaus und kam nach ein paar Minuten mit einem Teller zurück, auf dem ein paar Stücke trockener holländischer Käse lagen, ein paar Scheiben Räucherwurst und zwei eingelegte Gurken. Damit setzte sie sich auf den freien Hocker.
    Gegen elf belebte sich die Wohnung. Alle waren [428] aufgestanden. Nina wusch das Geschirr ab, und erst dann sah sie sich ihre Geschenke an und umarmte Viktor fest, fast auf Männerart, und küßte ihn auf den Mund und auf die Wange.
    Viktor, der sich inzwischen von dem morgendlichen Ausflug erholt hatte, kochte Kaffee für Nina und erklärte, wenn sie ausgetrunken habe, müsse sie aus dem Kaffeesatz lesen. Nina hatte es so eilig, ans Lesen zu kommen, daß sie sich die Lippen verbrannte. Aber das Bild, das sie dann an den Innenwänden des Täßchens erblickte, erfreute sie und ließ sie die verbrühten Lippen vergessen. Sie lachte. Als Sonja jedoch auch gucken wollte, verrieb sie den Kaffeesatz und verwischte die anstößigen Kaffeesilhouetten.
    Ljoscha nahm sein Geschenk nachdenklich in Empfang. Er überprüfte den Taschenrechner, rechnete irgendwas aus. Dann studierte er eingehend den Kalender.
    »Kannst du es brauchen?« fragte Viktor.
    Ljoscha zuckte die Achseln.
    »Wenn du eine Arbeit für mich findest, dann schon!«
    Viktor nickte. Ihm wurde auf einmal bewußt, daß er gar nichts bekommen hatte. Und niemand außer den Seinen hatte ihm zum neuen Jahr gratuliert, rechnete man nicht den nächtlichen Anrufer. Bloß, wer war das gewesen?
    Wieder versenkte Viktor sich in Gedanken in die Vergangenheit und versuchte, den Besitzer der nächtlichen Stimme zu finden. Aber das erwies sich als vergebliches Unterfangen, um so mehr, als er sich an die Stimme schon nicht mehr erinnern konnte.
    Er bekam Lust, allein zu sein. Morgen mußte er schon zur Arbeit, zu Sergej Pawlowitsch. Heute war noch ein [429] freier Tag. Der erste Tag des Jahres. Die Redensart fiel ihm ein: Wie du das Jahr beginnst, so wird es. Hatte er das neue Jahr gut begonnen? Viktor dachte nach. Sie hatten ordentlich gefeiert, wie es sich gehörte. Wenn man allerdings den Ausflug auf den Dnjepr als Fortsetzung der Neujahrsfeier nahm, dann verhieß das neue Jahr ihm nichts Gutes. Er dachte an den in der Pose des Rodinschen Denkers erfrorenen Angler, gebeugt auf seiner Kiste hockend, wie niedergedrückt von der Last des Lebens, auch wenn er nicht ganz wie ein Denker aussah. Bestimmt hatte man ihn schon entdeckt und in irgendeine Leichenhalle gebracht.
    Die Erinnerung an den Angler legte sich Viktor unangenehm aufs Gemüt, und um sie loszuwerden, beschloß er, sich abzulenken und einen Spaziergang in die Stadt zu machen.
    83
    Der

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